BESCHEIDWISSEN
Holocaustgedenken
„Es braucht ein Recht auf Bescheidwissen“
Wissenslücken sind weit verbreitet
Von Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus
Gastbeitrag im Tagesspiegel zum 27.01.2023 - Holocaust-Gedenktag
Die Ergebnisse der jüngsten Studie der Jewish Claims Conference über das Wissen und die Wahrnehmung der Shoah in den Niederlanden müssen uns alarmieren: Danach war der Hälfte der Befragten nicht bekannt, dass im Holocaust sechs Millionen Juden ermordet wurden. Auf die Frage, ob sie den Namen eines Konzentrations- oder Vernichtungslagers nennen können, wusste nur ein Drittel der Befragten eine Antwort. Etwa 25 Prozent der Personen unter 40 hält die historische Darstellung des Holocausts für übertrieben oder sogar erfunden.
Bei uns mögen die Zahlen im direkten Vergleich etwas besser aussehen, aber auch hierzulande sind die Wissenslücken über den Holocaust groß und verzerrte Wahrnehmungen über das von Deutschland ausgehende Menschheitsverbrechen weit verbreitet.
Wir brauchen eine Erinnerungskultur,
die nicht nur vermittelt,
was damals geschehen ist...
Falsche Vorstellungen, wer im Widerstand und wer Opfer war
So glaubt etwa ein Drittel aller Deutschen, ihre Vorfahren seien im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv gewesen, während dies tatsächlich nur ein Bruchteil war. Über ein Drittel der Deutschen ist der Ansicht, dass ihre Vorfahren Opfer des Nationalsozialismus sind, ein Bild, das heutzutage auch medial immer wieder verbreitet wird.
Um ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie es überhaupt zum Nationalsozialismus kommen konnte, sind solche Verzerrungen der geschichtlichen Wirklichkeit aber absolut kontraproduktiv.
Wie richtig erinnern angesichts der alarmierenden Befunde?
Wenn das „Nie wieder“ handlungsleitend sein soll, müssen wir versuchen, historische Handlungsspielräume aufzuzeigen, ohne die Geschichte zu verfälschen. Wie und wessen
sollten wir uns vor dem Hintergrund der erwähnten alarmierenden Befunde also erinnern, um sowohl den Opfern und den historischen Fakten gerecht zu werden als auch Anknüpfungspunkte zu bieten für
gegenwärtige Perspektiven?
Wir brauchen eine Erinnerungskultur, die nicht nur vermittelt, was damals geschehen ist, sondern auch diese zivilisatorische Kernbotschaft transportiert. Eine Erinnerungskultur, der es gelingt, den wachsenden zeitlichen Abstand zur Shoah zu überbrücken und eine Verbindung zur Gegenwart herzustellen. Angesichts der Tatsache, dass bald keine Überlenden des Holocausts mehr unter uns sein werden, kommt den Gedenkstätten in Zukunft als letzten authentischen Orten eine größere Bedeutung zu. Wir sollten es nicht nur ihnen und den Schulen überlassen, Bildungsangebote in der Erinnerungskultur zu machen. Ich sehe hier ebenso Betriebe, Behörden, Sportvereine und die Familien gefordert.
Die zahlreichen bereits bestehenden Gedenkangebote möchte ich dabei zuallererst jedem und jeder empfehlen, auch außerhalb von Gedenktagen. Sie reichen von Projekttagen bei Schulen, Veranstaltungen und Initiativen in kleinem Maßstab, in der eigenen Nachbarschaft, wie sie etwa seit den 1980er Jahren in den vielen lokalen Geschichtswerkstätten angestoßen wurden, bis zu offiziellen und vielbesuchten Ereignissen wie um die Jahrestage der Novemberpogrome. Zu diesem Anlass einen Stolperstein in der eigenen Straße zu reinigen und dort im Rahmen einer Gedenkveranstaltung Blumen abzulegen, kann ein sehr verbindendes Ereignis sein, das zum Austausch anregt und den Blick auf die eigene Umgebung in lebendige, eigene Bezüge setzt.
Wissen, welche Vernichtungsdynamik von diesem Land ausging
Wir sollten die Erinnerungskultur hin zum „Recht auf Bescheid-wissen“ weiterentwickeln: Insbesondere die
jüngere Generation in Deutschland, gleichgültig ob autochton oder zugewandert, hat das Recht, Bescheid darüber zu wissen, was in diesem Land passiert ist und welche Vernichtungsdynamik von ihm
ausging. Dies ist eine grundlegende Voraussetzung dafür, sich in unserer Gesellschaft erfolgreich bewegen zu können
auszug eines artikels vom "welt"-autor thomas schmid, in dem er das internet als neuartige globale verortungs-, informations- und gleichwertig würdige gedenkmöglichkeit miteinbezieht, wenn er über standort und gestaltung eines gedenkzeichens bezüglich der gräueltaten im nachbarland polen nachdenkt, auch im hinblick auf die verheerenden zivilen völkerrechtsverbrechen gegenüber weiteren slawischen volksgruppen "im osten"...
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Es gibt nichts,
was so unsichtbar wäre
wie Denkmäler
Zumal es heute schon gar nicht mehr ums Verherrlichen gehen kann. Nicht Personen, sondern Ereignisse sollen mit einem Denkmal memoriert werden, gute, schöne, erstmals aber auch schreckliche. Zudem trägt jedes neue Denkmal heute die Crux, dass es längst kein Monopol auf Darstellung von Erinnernswertem mehr hat.
Wer sich Vergangenes vergegenwärtigen will, wählt den kurzen Weg des Zugriffs aufs Allgegenwärtige: Er geht ins Internet.
Wie es die privaten Trauerforen im Netz gibt, so könnte es dort auch Gedenkforen geben. Wozu also noch Denkmäler? Vor knapp 100 Jahren hat Robert Musil einen Kalauer in die Welt gebracht, der schnell Verbreitung und Zustimmung fand. Er sagte: „Es gibt nichts in der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler.“ Wie alles, was wir immer wieder sehen, wird es bald zur Stadtkulisse, man geht achtlos und unberührt daran vorbei.
Schärfer noch hat es Claude Lanzmann in dem Motto formuliert, das er seinem großen Film „Shoah“ von 1985 voranstellte:
„Es gibt heute zwar eine große Anzahl von Museen, Denk- und Mahnmalen. Die aber dienen dem Vergessen ebenso wie der Erinnerung. Sie verwalten die Erinnerung, die zur toten Materie wird.“
Das ist eine schwere Hypothek. Fast alle Denkmalformen sind verbraucht, vom sozialistischen Realismus bis zur abstrakten Figuration. Das soll nicht heißen, Denkmäler, die ihre Funktion erfüllen, seien unmöglich geworden. Das Berliner Holocaust-Denkmal beweist das. Doch nur teilweise. Denn dessen stilistische Strenge und Kargheit steht in deutlichem Widerspruch zur Monumentalität des Ganzen. Hier wurde offensichtlich noch einmal versucht, einen Rest der alten Herrschaftlichkeit von Denkmälern in unsere Zeit hinüberzuretten.
Auszug aus einem Artikel zur Mahnmal-Debatte: "Was Polen angetan wurde, braucht in Berlin einen eigenen Ort des Gedenkens" . Von Thomas Schmid . aus DIE WELT vom 27.10.2020, Seite 8 Politik
Never Forget
Eine Gedenkskulptur am Max-Planck-Institut für Hirnforschung erinnert an die tragische Geschichte des Vorgängerinstituts während des Dritten Reichs
° e r . i n n e r n
e r (r) i n n e r n
e n t . r i n n e n
in dem gedicht oben "du musst in einem februar frieren" (& click hier) . ganz aktuell aus diesen tagen . zur mordserie in hanau & anderswo . erschließt sich trotz der historischen distanz an jahren fast zeile für zeile auch das geschehen um erna kronshage: diese morde in hanau am 19. februar [2020] - & die ermordung erna kronshages am 20. februar [1944]
also - es passt schon überein - über all die 76 jahre hinweg: "du musst in einem februar frieren..." . in dieser unmenschlichen gewalttaten-performance aus den immer noch & immer wieder gleichen beweggründen . und dies ist damit auch schon eine erste teilantwort auf die frage von oben: was hat das mit uns heute zu tun? ...
in dem gedicht hier als eine spoken.word.performance von tanasgol sabbagh in der begleitung der drummerin linda philomène tsoungui wird "er.innerung" im assoziativen wortspiel zur "er(r)innerung" - & es hört sich intuitiv sogar wie ein "ent.rinnen" an: dahinter verbirgt sich der heimliche versuch, mit der "er.innerung" etwas abzuschütteln & abzustreifen . etwas hinter sich zu lassen . etwas los.zu.werden.
° er.innern - so sagt es das wort, geht an unser inneres
sosein - salopp sagt man: es geht an's 'eingemachte'...
die meisten er.innerungen sind wie mit dem brenneisen eingebrannt . da gibt es kein ent.rinnen . unter die haut in bauch & hirn der mehr oder minder beteiligten oder wissenden. die deshalb unbedingt mit.teilens.werten erinnerungen werden als geschichte(n) nach- & weiterzählt, um so das in uns aufgeschichtete . das 'eingemachte' . aufzudecken & mit-zu-teilen, um so sogar familiengeheimnisse schlussendlich zu verraten / denn:"einer trage des andern last ..." (galater 6,2) - oder: [mit-]geteilte last ist halbe last /
er.innerungen sind unzuverlässig & vom "gedächtnis" vorsortiert: manches vergisst man, weil es belanglos ist. manches verdrängt man, weil man sich dafür schämt. manche erinnerungen verändern sich. doch ohne erinnerung verliert jeder mensch nicht nur die geschichte, die er für sein leben hält, er verliert auch sich selbst, seine identität.
in der er.innerung werden fakten rekonstruiert, so gut das möglich ist, denn es geht nicht um eine absolute wahrheit, wohl aber um die wahrheit, die sich niederschlägt und sich offensichtlich niedergeschlagen hat als bodensatz, als "die dinge, denen man auf den grund gehen kann", die es aufzudecken gilt aus vertuschen, beschweigen, verzerren und vergessen -
jenseits etwa auch von unbotmäßigen "pathosformeln" in einer ritualisierten & längst "routinisierten" gedenk- & erinnerungsarbeit - oder dem hin & wieder wahrnehmbaren "abhaken" dieses kapitels als "ein-für-allemal-endlich-erledigt" - wie gaulands wort vom "vogelschiss in der deutschen geschichte"...
neue inzwischen "wissenschaftlich" konnotierte stichworte durchziehen seit einiger zeit die historische forschung, die über die mündlichen berichte inzwischen hochbetagter zeitzeugen der shoah und auch der ns-euthanasie-geschehnisse erfolgt. da ist von "oral history" die rede und hier & da von einer methode namens "narratively" als eine "erzählende [narrative] ereignis- und erlebniswiedergabe" - vom persönlichen geschichte(n)-erzählen aus der rückerinnerung.
und sogar die aussage - nach bestem wissen & gewissen - eines vereidigten zeugen vor gericht bleibt ja doch immer im kern nur eine "oral history" - und jeder noch so belehrende richter kennt das bei seiner be- und verurteilung beim jeweils in rede stehenden "fall"detail - zumal wenn verschiedene zeugen sich zur gleichen "sache" einlassen.
henryk m. broder, umstrittener kolumnen-autor und inzwischen journalistisches urgestein bei der "welt", schreibt in einem jüngeren beitrag (click) direkt dazu u.a.:
"'Oral History' hat es immer gegeben. Die Geschichte des Auszugs aus Ägypten ist Oral History, Wilhelm Tell und Wallenstein sind es auch.
Der einzige Unterschied zwischen einst und jetzt liegt darin, dass „erinnern“ ein „reflexives“ Verb war, das heute „intransitiv“ benutzt wird. Wir erinnern uns
nicht mehr, wir erinnern nur noch – Omas letzten Geburtstag oder den Supergau von Tschernobyl. ...
Jeder ... weiß, dass Erinnerung keine 100 Prozent sichere Grundlage ist, dass Zeitzeugen das, was sie erlebt haben, manchmal mit dem
vermischen, was sie von anderen gehört haben. Für die Authentizität ihrer Erinnerungen ist es aber völlig belanglos, ob sie in Sechser- oder Achterreihen marschiert sind, was es in Buchenwald zu
Mittag gab oder wie viele Häftlinge sich in Dachau eine Pritsche teilen mussten. Das ist Erbsenzählerei."
und die autorin mara delius beleuchtet in einem artikel auf der kulturseite der "welt am sonntag" vom 4.april 2021 zu einer geplanten gedenkfeier des bundespräsidenten für die toten der corona-pandemie das spannungsfeld zwischen individuellem persönlichen erinnern und dem kollektiven "staatlichen" gedenkakt sinngemäß u.a. so:
"Der Soziologe Maurice Halbwachs, in Frankreich geboren, in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges im KZ Buchenwald ermordet, hat die Theorie vom kollektiven Gedächtnis entwickelt. Derzufolge steht jeder Mensch in zwei nicht identischen, aber miteinander verbundenen Gedächtnisräumen: dem subjektiven Raum der Erinnerung und dem des kollektiven Gedächtnisses, in dessen Horizont er sich immer befindet und der die Grenze der subjektiven, individuellen Erinnerung kennzeichnet.
Es ist für ein Individuum genauso wie für eine Gesellschaft überlebenswichtig, die an ein Leben gekoppelte Erinnerung des Einzelnen in ein größeres, kulturelles Gedächtnis zu übertragen, etwa durch Rituale wie das Ritual des Begräbnisses, das nicht einfach dem Trauern und Abschiednehmen an sich dient, sondern einer Art Objektivierung des Todes.
Menschen begraben ihre Toten nicht einfach, um sich von einem Leben zu verabschieden oder eine Art Trennung zwischen Tod und Leben zu ziehen, hat der Anthropologe Robert Harrison formuliert. Sie tun es auch, um den Boden, auf dem sie ihre Welten bauen, menschlich zu machen. ...
Die Philosophin Hannah Arendt hat den Ausdruck der Natalität geprägt für die Fähigkeit des Menschen, immer wieder neu anzufangen, sich zu einem Neuanfang aufzuraffen nach einem essenziellen Verlusterlebnis, es ist ein Potenzial, das die Menschen von Geburt an in die Welt mitbringen. ...
In der unmittelbaren Gegenwart jedenfalls bringt der Akt des Erinnerns auch etwas Neues hervor, das zwischen den Reden, Sichtbarmachen und Innehalten, den Trauergestecken, Musikstücken und ernsten Mienen und all den anderen Insignien des Gedenkens aufscheinen könnte: Einfühlung und Empathie - ein fast schon revolutionärer "neuer Beginn", der die Toten auch ehrt, indem die Lebenden und ihre Zukunft nicht vergessen wird..."
Eine Online-Grundsatz-Diskussion zur Standort-Bestimmung der NS-Euthanasie-Erinnerungsarbeit
„… nicht als Objekt zu behandeln, sondern als Mensch.“
Virtuelle Podiumsdiskussion zu den nationalsozialistischen Euthanasiemorden in Thüringen und dem heutigen Umgang mit
„Normalität“
Quelle: click hier
PER LEO UND ERINNERUNGSKULTUR:
Die Unschuld wird immer größer
VON CLAUDIUS SEIDL faz.net
Worum geht es eigentlich beim neuen Historikerstreit, dessen Winkelzüge das Publikum in den Zeitungen, im Radio und im Internet verfolgen kann? Und dessen Heftigkeit und scharfer Ton doch jedem, der nur als Gelegenheitsleser oder Zufallshörer damit konfrontiert wird, unverständlich erscheinen muss.
Geht es um Kritik am deutschen Gedenken und Erinnern, welche (wie der australische Genozidforscher Dirk Moses schreibt) sich nach einem Katechismus richteten, einer Sammlung von Glaubensregeln also, deren wichtigste die sei, dass der Holocaust als singuläres und nicht vergleichbares Menschheitsverbrechen zu betrachten sei, weshalb jede Kontextualisierung, jede Historisierung sich verbiete? Und die politisch darauf hinauslaufe, dass die Deutschen, als das Volk der Täter, zur unumstößlichen Loyalität mit dem Staat Israel verpflichtet seien, auch wenn dieser die Palästinenser noch so übel knechte? Zudem verstelle dieser deutsche Katechismus den Blick auf die Verbrechen des Kolonialismus, die doch erst den Gesamtzusammenhang formten, in dem auch der Holocaust betrachtet werden müsse.
Oder geht es, wie die Gegenseite unterstellt, vor allem darum, dass die Linke jetzt versucht, was den Konservativen im ersten Historikerstreit nicht gelungen sei: den Holocaust zu relativieren und als ein Verbrechen unter vielen zu deuten, nur ein Kapitel in der langen Verbrechensgeschichte des Westens, mit der Folge, dass die deutsche Schuld nicht mehr so schwer wöge und die deutsche Verpflichtung gegenüber Israel an Verbindlichkeit verlöre, ja dass man generell den Staat Israel nicht mehr als Zufluchtsort und potentiell letzte, mit allen Mitteln zu verteidigende Bastion des jüdischen Volks behandeln müsste? Sondern als Siedlungskolonie weißer Menschen und als Unterdrücker und Kolonisator des palästinensischen Volks?
Wer darf jetzt wieder aufrecht gehen?
Der Schriftsteller und Historiker Per Leo hat in seinem neuen Buch „Tränen ohne Trauer“ (Klett-Cotta, 20 Euro), das mehr Essay als historisch-politisches Sachbuch und doch mit vielen Fußnoten geerdet ist (und das man immer wieder gegen die Intentionen seines Autors lesen darf), ein paar überraschende Antworten gegeben, unter denen womöglich die brauchbarste, die politisch dringlichste und lebensnächste die ist, dass all das Gedenken und Erinnern, die schönen Kränze und die ernsten Mienen vor monumentalen Mahnmalen so oft so hohl, falsch, verlogen sind, dass womöglich genau darin das größte Verdienst dieses Historikerstreits bestehen könnte: dass nämlich die, die sich gegen die Relativierung und Postkolonialisierung wehren, ihre eigenen Rituale, Sprechweisen und Ergriffenheitsgesten dringend überdenken sollten.
Singularität ist ein Begriff, der in der Astronomie schärfer definiert ist (der Ort, an dem sich die Raumzeit ins Unendliche krümmt) als in der Geschichte der Menschheitsverbrechen, ein abstrakter, unanschaulicher Begriff und, wenn es um die deutschen Verbrechen geht, eine These, die man hundertmal formulieren und wieder zurückweisen kann, ohne dass man dabei viele neue Erkenntnisse gewonnen hätte. Solange jedenfalls, wie man nicht fragt, was da für wen und warum so singulär war.
Einzigartig war für die Juden die Erfahrung, dass nach mehr als zweitausend Jahren der Verfolgung, des Hasses und der Diskriminierung, zu einer Zeit, da viele hoffen durften, dass die Verhältnisse sich verbesserten, sie sich umstellt sahen von Nachbarn, die beschlossen hatten, das gesamte Volk der Juden auszulöschen. Und die das taten, bis alliierte Armeen das Morden beendeten. Einzigartig war, dass die Deutschen, ein zivilisiertes Volk im zivilisierten Europa, kaum zwei Generationen, nachdem sie endlich zur Nation geworden waren, einen Verbrecher zu ihrem Herrscher wählten und das Regime auch dann noch und mit letzter Kraft verteidigten, als nahezu jeder wissen oder ahnen konnte, wohin die jüdischen Nachbarn verschleppt und was ihnen Ungeheuerliches angetan worden war.
Wer mit Stauffenberg einen Tee getrunken hat
Aber gerade wer darauf besteht, dass sich daraus eine Verpflichtung und eine Verantwortung ergeben, die sich nicht so einfach auflösen lassen im Großen und Ganzen des postkolonialen Diskurses und der Annahme einer Gesamtschuld Europas an Rassismus und Unterdrückung (und die auch nicht das Dementi der Verantwortung gegenüber den Opfern deutscher Kolonialverbrechen sind), der darf ganz dringend Per Leos Rückblick auf die deutsche Gedenkkultur ganz genau lesen: Richard von Weizsäcker, der in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985 den Deutschen bescheinigte, dass sie vierzig Jahre zuvor befreit und nicht nur besiegt worden seien – so als wären auch sie die Opfer der Nazis und nicht etwa die Täter gewesen. Lea Rosh und Eberhard Jäckel, die sich so leidenschaftlich für ein Mahnmal eingesetzt hatten und die, als das Stelenfeld in Berlin (das die meisten deutschen Juden eher kühl und distanziert betrachteten) endlich stand, bekannten, dass man als deutscher Mensch jetzt endlich wieder aufrecht gehen könne beziehungsweise sich leichter fühle – so als hätte Deutschland nicht nur eine schöne Immobilie und einen Etatposten als Opfer dargebracht.
Den Hang der Deutschen, sich selbst mit ihren eigenen Opfern zu verwechseln, führt Per Leo auf die Generation von 1968 zurück, auf die Kinder der Nazi- und Wehrmachtsgeneration also, deren Leben von diesen Eltern zwar nicht bedroht wurde; aber irgendwie waren doch auch die strengen Erziehungsmethoden, der Zwang zu kurzen Haaren, sauberen Fingernägeln und regelmäßigen Mahlzeiten faschistisch, weshalb man sich mit anderen Opfern identifizieren durfte. Mit dem Älter- und Schwächerwerden der Kriegsgeneration, so möchte man Leo ergänzen, ging der Blick in eine andere Richtung: Fortan suchten die Deutschen nicht mehr nach den Mördern unter ihren Vorfahren, sondern suchten in den Verästelungen ihrer Stammbäume nach der vergessenen jüdischen Urgroßtante oder, im Fall der besseren Leute, nach dem Cousin des Großvaters, der womöglich im Offizierskasino fast mal eine Tasse Tee mit dem Grafen Stauffenberg getrunken hätte. Dass, nach der eigenen Familiengeschichte befragt, heute fast jeder Deutsche erzählt, seine Leute seien aber zu adelig, zu bürgerlich, zu liberal, zu konservativ, zu katholisch, zu links gewesen, als dass sie die Nazis hätten unterstützen können, versteht sich in diesem Zusammenhang fast von selbst. Und damit alles gut bleibe, heißen die Kinder dann Esther und Elias, Hannah, Jonas, Rahel.
Wie unangreifbar die Unschuld der Deutschen inzwischen ist, konnte man Ende Februar auf der Titelseite einer großen Tageszeitung studieren. Das Aufmacherbild zeigte Josef Schuster, den Präsidenten des Zentralrats der Juden vor einem siebenarmigen Leuchter; daneben stand der Bundespräsident. Es ging um eine Feierstunde in der Kölner Synagoge. Ganz oben, als Lesetipp des Tages gewissermaßen, stand: „Hitlers Vater – die erste Biografie“. Es sind solche Tage, an denen man sich fragt, wann die Deutschen ihrer Mahnmal-, Gedenk- und Erinnerungskultur ein eigenes Mahnmal widmen werden. Und wie man, wenn die letzten Zeitzeugen demnächst gestorben sein werden, die Drastik, die Anschaulichkeit, die Unmittelbarkeit evozieren könnte, welche man dem Erinnerungskitsch und der Selbstgefälligkeit entgegensetzen müsste, das weiß auch Per Leo nicht. Nur dass es notwendig wäre, daran erinnert, schmerzhaft geradezu, der neue Historikerstreit.
Das Beispiel des Bösen
„Man nenne es finstere Möglichkeiten der Menschennatur überhaupt, die hier zu Tage kommen – deutsche Menschen, Zehntausende, Hunderttausende, sind es nun einmal, die
verübt haben, wovor die Menschheit schaudert, und was nur immer auf deutsch gelebt hat, steht da als ein Abscheu und als Beispiel des Bösen.“ So steht das am Ende des „Doktor Faustus“, geschrieben
wohl im Lauf des Jahres 1946 – und wer glaubt, dass sich das erledigt habe, bloß weil 75 Jahre vergangen sind, sollte den Satz und das Kapitel, in dem er steht, noch einmal lesen. Was die Gültigkeit
solcher Sätze trotzdem in Frage stellt, ist der Umstand, dass das Wörtchen „deutsch“ heute auch solchen Menschen gehört, deren Herkunftsgeschichten in ganz andere Richtungen weisen. Und die ganze
Sache wird nicht einfacher, wenn man Per Leos Gleichnis ganz am Anfang des Buchs beim Wort nimmt, seinen Vorschlag nämlich, sich die Herrschaft der Nazis wie einen Abgrund vorzustellen und den Weg
durch die Geschichte, den die Deutschen seither gegangen sind, wie das Ersteigen eines Bergs, der neben dem Abgrund sich erhebt. Dieser Abgrund werde nicht kleiner, nicht weniger bedrohlich, je
weiter nach oben die Wanderer kämen. Man sähe aber weiter, man überblicke, je höher man gekommen sei, eine umso weitere Landschaft.
Was man da sähe, beschreibt Leo nicht; aber man kann es sich ja selbst zusammenphantasieren: Man sähe eine Nation, der, bis zum Machtantritt der Nazis, kaum mehr als ein halbes Jahrhundert beschieden war. Dahinter die zerklüftete Geschichtslandschaft des 19. Jahrhunderts. Und in noch weiterer Ferne ein großes, unübersichtliches Terrain, bevölkert von Menschen, die getrennt durch die gemeinsame Sprache waren, innig verbunden nur durch die religiösen, kulturellen und machtpolitischen Konflikte, die ihnen nicht nur von ihren Fürsten aufgezwungen wurden. Einige der besten Köpfe unter ihnen, das ist auch aus der Ferne zu erkennen, arbeiteten sich ab an einer Frage, auf die sie selten haltbare Antworten fanden: Was ist deutsch?
Zum Volk der Täter gehörig: Das wäre eine der schärfsten Definitionen – wenn nicht fast jeder fünfte Deutsche eine Person mit Migrationshintergrund wäre, ein Mensch also, dem man von der Schuld der deutschen Urgroßväter nichts zu erzählen braucht, weil er womöglich mit ganz anderen Geschichten fertig werden muss. Per Leo erwähnt das, aber dass es ein nahezu unlösbares Problem fürs deutsche Selbstverständnis sein könnte, mag er nicht glauben.
Wenn es nämlich, nachdem Leo gewissermaßen die Nachgeschichte des Nationalsozialismus in Deutschland abgeschritten hat, ein Fazit gibt, dann ist es wohl das:
„In Deutschland hat die Neigung, das Andere der eigenen Vorzüglichkeit in einer ahistorischen »Residualkategorie« (Ulrich Herbert) namens ,Nationalsozialismus‘ oder ,Faschismus‘ zu deponieren und die Probleme der Gegenwart, statt sie aus sich selbst heraus zu begreifen, in die Kostüme der Weimarer Republik und des Dritten Reichs zu stecken, um sie dann von Bühnen des eigenen Moraltheaters zu verjagen, wahrhaft luxuriöse Ausmaße angenommen.“
Leo zieht daraus den Schluss, man solle die Nazis in den Geschichtsbüchern lassen und sich, unbeschwert von dieser Vergangenheit, auf die Gegenwart konzentrieren: „Die Lasten des Nationalsozialismus sind weitgehend abgetragen, die Aufträge, die er uns hinterlassen hat, alles in allem erfüllt, die Fragen, die er aufwarf, größtenteils beantwortet.“ Da allerdings möchte man ihm widersprechen. So ein Satz, wenn er von einem deutschen Autor kommt, kann nur falsch sein. Wann die Lasten wirklich abgetragen sind, werden uns die Nachkommen der Opfer sagen. Wenn es so weit ist.
Quelle: F.A.S. (click)
ganz unverblümt ist festzustellen, dass nun, so scheint es, genau jenem "vulnerablen personenkreis" fehleinkäufe des bundesministeriums für gesundheit an millionenschweren fehleinkaufs-corona-schutzmasken aus dem frühjahr 2020 angedreht werden sollten, der noch vor 80/75 jahren als sogenannte "ballastexistenzen" zwangssterilisiert und in aufeinanderfolgenden phasen in ns-euthanasie-mordanstalten massenhaft getötet wurde: der personenkreis der behinderten und obdachlosen mitmenschen ...
damit sollten dann wohl die fehleinkäufe kaschiert und als "gute tat" verkauft werden. inzwischen wird diese absicht natürlich bestritten. >>> click & click
adolf hitler und die nationalsozialisten übersetzten die ermordung und ausrottung dieses personenkreises ja auch schon als "gute tat", als "gnadentod", der "gewährt" werden kann - als einen "schönen tod" - als "hilfe" für die betroffenen und ihre familien - als "erlösung" ...
und heutzutage, nach all den jahren, benutzt man diese gruppe von mitmenschen wieder mal, um sie in irgendeiner weise in kontroverse bewertungsdiskussionen über die köpfe hinweg als verfügungsmasse separat und "beispielhaft" einzubeziehen und in anspruch zu nehmen für wahlpolitische propagandazwecke - kontrovers von der einen oder der anderen seite - sie somit wieder zu diskriminieren und zu missbrauchen.
in jedem fall lautet der subtext dieser debatte, dass menschen, deren gesundheitsschutz volkswirtschaftlich "nicht lohnt", in der pandemie mit b-ware abgespeist werden sollten oder könnten - bzw. dass - von wem auch immer - eine solche möglichkeit ins kalkül gezogen und diskutiert wurde...
entweder es ist etwas an den meldungen dran, dann hat die cdu ein problem, oder der fall wurde übertrieben, dann hat die spd ein problem –, und dann dürfte die lust an der aufklärung allerdings auf beiden seiten grenzen haben.si
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Sonntag, 06.06.2021, Tagesspiegel / Kultur
Für eine neue Kultur des Erinnerns
Traditionelle Rituale an Gedenktagen spiegeln nicht mehr die Pluralität der deutschen Gesellschaft wider. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit muss auch europäischer werden / Von Johanna Korneli, Max Czollek und Jo Frank
Der Historiker Michal Bodemann beschrieb staatliche und zivilgesellschaftliche Erinnerung in Bezug auf die Shoah schon 1996 als „Gedächtnistheater“. Die Intention dieses Erinnerns ist demnach das bundesrepublikanische Narrativ der Gutwerdung Deutschlands. Dabei werden Erinnerungsmomente von der Shoah über die terroristische Gewalt der RAF bis zum SED-Unrecht in der DDR als in sich abgeschlossene historische „Kapitel“ behandelt, womit insbesondere Kontinuitäten rechten Terrors abgeschwächt werden.
Diese Deutung der Geschichte führt zu Verzerrungen und Gedächtnislosigkeit – und zu einer Banalisierung der wichtigen Rolle, die Erinnerungskulturen für plurale Demokratien spielen.
Erinnerungskulturen vermitteln eine Deutung von Geschichte, eine Interpretation von Vergangenheit. Sie verraten auch etwas über eine bestimmte Wahrnehmung der Gegenwart durch diejenigen, die Erinnerungsrituale gestalten. Erinnert man beispielsweise an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus vor allem mit Menschen wie Sophie Scholl oder Stauffenberg, so drückt sich darin eine Vorstellung von der Zentralität und Relevanz der bürgerlichen Mitte für eine postnationalsozialistische Gesellschaft aus. Erscheinen Jüdinnen und Juden ausschließlich als Opfer wie bei den Gedenktagen des 9. November (Pogromnacht) und des 27. Januar (Befreiung von Auschwitz), weist ihnen das auch in der Gegenwart einen Opferstatus zu, von dem sie sich immer neu emanzipieren müssen.
Erinnerungskulturen sind Identitätsangebote. Wer sich wann, wo und wie erinnert und wessen Erinnern sichtbar gemacht wird – durch staatliche Förderung, durch Ausstellungen, Denkmale oder Gedenktage –, all das steht im direkten Zusammenhang mit der Frage, wie sich eine Gesellschaft selbst erzählt, wer zu ihrem Wir dazugehört. Erinnerungskultur ist also nicht unschuldig. Sie erfüllt ideologische Funktionen. Sie schafft Deutungsangebote und Platz für die verschiedenen Menschen, die eine Gesellschaft ausmachen oder eben nicht.
Das lässt sich an den Jubiläen des Mauerfalls 2019 und der Vereinigung 2020 nachvollziehen. Die Gedenkreden erzählten das Ende der Teilung Deutschlands als glückliche Fügung, auf die alle Bewohner:innen dieses Landes stolz sein dürften. Die Erfahrung von Gastarbeiter:innen und ihren Kindern, Afrodeutschen, Jüdinnen und Juden und den vielen weiteren als anders markierten blieb weitgehend unerwähnt.
Für viele Menschen markieren die Daten 1989/1990 keine Freudenzeit, sondern den Beginn systematischer Übergriffe und Verfolgung – von Rostock-Lichtenhagen über Mölln bis Hoyerswerda und zahlreiche andere. Gerade diese Ambivalenz der Erinnerung mag schwer zu ertragen sein für diejenigen, die den Mauerfall gern als nationale Vereinigungsfeier auf die Bühne des Gedächtnistheaters stellen wollen.
Und dann gibt es auch noch die Erinnerungsmomente, die zum pluralen Deutschland und seinen Einwohner:innen gehören, die noch gar keinen Raum im deutschen Erinnerungsnarrativ haben: der Krieg in Afghanistan, in Syrien, im Irak, die Revolution im Iran, die Migration als Ergebnis der Implosion der Sowjetunion, das Leben als Nachfahren kolonialer Unterdrückung. Auch diese Erinnerungsmomente brauchen Raum, will die plurale Demokratie Erinnerung so gestalten, dass alle Menschen darin repräsentiert werden und nicht nur einige.
Eine plurale Gesellschaft braucht eine andere plurale Erinnerungskultur, die ihrer eigenen inneren Vielfalt gerecht wird. Denn in einer radikal vielfältigen und selbstbewussten Gesellschaft wie der deutschen genügt es nicht mehr, eine Geschichte zu erzählen. Für die Erinnerungskultur ist deshalb nicht erst mit der Debatte um Stadtschloss, Humboldt Forum, Frankfurter Paulskirche und Potsdamer Garnisonkirche eine Zeit der kritischen Selbstbefragung hegemonialer Narrative angebrochen.
Zweifelsohne ist eine solche Suche nach Räumen pluraler Erinnerung keine leichte Aufgabe. Aber wer hätte je behauptet, dass Erinnerung in einer pluralen Demokratie leicht sei.
Wofür eigentlich erinnern? Die Antwort darauf sollte nicht einfach lauten: weil es geschehen ist. Sondern auch: weil es nie wieder geschehen sollte. Dies bedeutet nicht weniger als den Versuch einer kritischen Neufassung von Erinnerungskultur. Eines der herausragenden verbindenden Charakteristika der Verbrechen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts findet sich im nationalistischen Drang zur Homogenisierung.
Das gilt nicht nur für die Alliterationen des Hasses der jüngeren deutschen Geschichte von Hanau bis Halle, sondern auch für Belfast, Bagdad, Burundi, Bangladesh oder Bosnien-Herzegowina. Eine plurale Erinnerungskultur, die die Gesellschaft so einrichten möchte, dass sich die Verbrechen der letzten Jahrhunderte nicht wiederholen, muss diesen Fantasien von Homogenisierung und nationaler Größe begegnen, die derzeit von Seiten nicht nur europäischer Populist:innen in Stellung gebracht werden.
Solche Fantasien sind nicht die einzige Spielwiese einer politischen Rechten. Vielmehr lässt sich beobachten, wie sich nationalistische und vereinheitlichende Erinnerungsnarrative in der Gegenwart über das gesamte politische Spektrum hinweg verfestigen.
Wenn wir als Teil einer pluralen Gesellschaft also dem homogenisiertem Erinnern die Pluralität der Geschichte entgegenstellen; wenn wir darauf beharren, dass plurale Erinnerungskultur bedeuten sollte, die Gesellschaft so einzurichten, dass sich die Verbrechen der Geschichte nicht wiederholen; wenn wir insistieren, dass Gedenken auch Diskriminierungskritik bedeuten muss, dann wird Erinnerungskultur zu einem Teil der wehrhaften pluralen Demokratie. Und diese Wehrhaftigkeit muss auch eine Kritik einseitiger und vereinheitlichender Aufführungen gegenwärtiger Erinnerungskulturen beinhalten.
Auf deutschen Straßen schreit sich der Antisemitismus heiser, während man in den Feuilletons über importierten Antisemitismus diskutiert, als gäbe es keine antisemitische Geschichte und Gegenwart von Gelsenkirchen bis Berlin. Und als seien Israel hassende Demonstrant:innen, deren Eltern und Großeltern irgendwann nach Deutschland kamen, nicht Teil dieser Gesellschaft.
Der Zustand der gegenwärtigen Debatten ist gefährlich, weil er auf der einen Seite eine unglaubwürdige Erfolgsgeschichte inszeniert, während er auf der anderen Seite unterschiedliche diskriminierte Minderheiten gegeneinander ausspielt. Das hat mehr, als man vielleicht auf den ersten Blick denken mag, mit Erinnerungskultur zu tun. Von „importiertem Antisemitismus“ spricht etwa, wer dem eingeübten Narrativ aufsitzt, dass Deutschland als „Erinnerungsweltmeister“ Antisemitismus bewältigt habe. Und dass deshalb gegenwärtiger Antisemitismus von außen kommen müsse.
Dem steht die Tatsache einer zunehmend pluraleren Gesellschaft gegenüber, in der die Unterscheidung zwischen Deutschen und den Anderen unplausibel wird. Die dabei entstehende Spannung zwischen Gedächtnistheater und Vielfalt macht eine radikale Wende in der Erinnerungskultur möglich. Ziel ist der Abschied von einem identitätspolitischen, monokulturellen Modell hin zur Etablierung von Erinnerungskulturen, die die Vielfalt deutscher und europäischer Erinnerungsmomente in sich aufnehmen. Und das meint ausdrücklich auch jene Teile der Gesellschaft, die Flucht und Vertreibung, Gewalt und Entmündigung erlebt haben, innerhalb und außerhalb Deutschlands.
Im Rahmen unserer Arbeit der Dialogperspektiven findet diese Anerkennung seit Jahren statt. Unsere Teilnehmer:innen kommen aus ganz Europa, mit vielfältigen religiösen und nichtreligiösen Identitäten und familiären Verbindungen in die ganze Welt und verhandeln vielfältigste Erinnerungsmomente miteinander. Die Pluralisierung deutscher und europäischer Erinnerungskulturen muss zugleich an den Strukturen der Bildungspolitik ansetzen, von der Kita über Lehrpläne bis zur Hochschulpolitik. Es braucht die Beteiligung von Ministerien Religionsgemeinschaften und Kulturinstitutionen, Polizei und Gerichten, damit eine Vorstellung entwickelt werden kann, die Erinnerungskultur im Sinne einer wehrhaften Demokratie neu fasst.
Um diese Entwicklung zu stärken, wurde die „Coalition for Pluralistic Public Discourse“ (CPPD) initiiert, ein Netzwerk von Künstler:innen, Intellektuellen, Wissenschaftler:innen verschiedenster Hintergründe und Disziplinen. Bei dieser Arbeit geht es nicht darum, die in den vergangenen Jahrzehnten entwickelte deutsche Erinnerungskultur in Gänze zu dekonstruieren. Ziel ist eine Weitung des Blicks. So könnte der 27. Januar als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus auch weitere Gruppen von im Nationalsozialismus Ermordeter in unser Gedenken miteinschließen – Sinti*zze und Roma*nja, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung.
Oder man könnte dem 9. November und 27. Januar noch einen weiteren Tag beistellen, der auch an jüdischen Widerstand erinnert. Sei es der 8. Mai, weil viele Jüdinnen und Juden Nazideutschland an der Seite der Alliierten besiegten. Oder sei es der 19. April, an dem 1943 der Aufstand im Warschauer Ghetto begann.
In diesen Vorschlägen kündigt sich nicht zufällig, auch die Europäisierung des Erinnerns an. Die Herausforderungen liegen dabei auf der Hand und reichen von Relativierung bis Gleichsetzung, gegenseitiger Diskriminierung bis Opferkonkurrenz. Das klingt kompliziert und ist es auch. Aber diese Schwierigkeiten sind Ausdruck einer Spaltung der Gesellschaft, die auch erinnerungskulturell seit Jahrzehnten existiert.
Durch plurale Zugänge, durch Hörbarmachen und Solidarisierung entsteht ein neues Bild der Gesellschaft, in der wir leben. Ein Fokus auf Verschiedenheit der Erinnerung kann dabei in ihren verletzlichen, ihren schmerzhaften und verstörenden Dimensionen die unterschiedlichen Mitglieder dieser Gesellschaft ansprechen. Sie könnte zu einem Katalysator für Veränderungsprozesse werden, die über die vorwegnehmenden Versöhnungsgesten, Kränze, die wohlmeinenden Beschwörungen und das ewige Erschrecken vor der eigenen gewaltvollen Gegenwart hinausgeht.
Diese Gesellschaft hat sich seit 1945 selbst immer wieder das Versprechen gegeben, eine andere, gerechtere, weniger gewaltvolle zu sein. Wenn es dieser Gesellschaft ernst ist mit ihrem Wunsch, anders zu werden, braucht sie auch eine andere Erinnerungskultur. Und diese muss plural sein.
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Johanna Korneli ist Programmleiterin des Programms „Dialogperspektiven. Religionen und Weltanschauungen im Gespräch“ und der CPPD. Max Czollek ist Essayist, Lyriker und akademisch-künstlerischer Leiter der CPPD. Jo Frank ist Verleger, Autor sowie Director for Developement der Leo Baeck Foundation. Die Veranstaltung „Perspektiven auf pluralistisches Erinnern“ findet am 7. Juni 2021 im Rahmen der Langen Nacht der Ideen statt. Mehr Informationen unter: https://dialogperspektiven.de/events lndi2021cppd/
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Vom Tatort zum Gedenkort
Nirgendwo ermordeten die Nazis vom NSU mehr Menschen als in Nürnberg. Die Stadt tat sich schwer, den Toten angemessene Gedenkorte zu widmen. Diese sind
oft abgelegen und schwer zu finden. Das soll sich nun endlich ändern
AUS NÜRNBERG VON JO SEUSS . taz, freitag, 28.05.2021, inland - s. 07
Die Tatorte liegen zu weit außerhalb, als das man zufällig über sie stolpern würde. Nicht am Rand der Liegnitzer Straße. Auch nicht in der Scharrer-, Scheurl- oder Gyulaer Straße. Vier Straßen in Nürnberg, in denen der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) zwischen 1999 und 2005 drei Menschen mit türkischer Herkunft ermordete und einen schwer verletzte. Die Tatorte liegen, eher abseits, in südlichen Stadtteilen. Deshalb hat die Stadt Nürnberg im März 2013 das offizielle NSU-Mahnmal am Rand der südlichen Altstadt platziert und sich kaum um Gedenkorte an den Tatorten selbst gekümmert.
Der NSU hat insgesamt 10 Menschen in verschiedenen Städten ermordet, nirgendwo so viele wie in Nürnberg. Mit der Frage, wie der Opfer gedacht werden kann, tut sich die Stadt nicht immer leicht.
Das offizielle Mahnmal in der Altstadt ist eine Stele mit den Namen aller NSU-Opfer. Man erkennt sie erst bei genauerem Hinsehen, sie geht etwas unter. Im Umfeld erinnern noch weitere Gedenkorte an ermordete Sinti und Roma oder die homosexuellen Opfer des NS-Regimes von 1933 bis 1945. Der antifaschistischen Initiative „Das Schweigen durchbrechen“ reichte die offizielle Erinnerungsarbeit für die Opfer der braunen Terrorzelle nicht aus. Sie sorgte mit Aktionen und Infotafeln dafür, dass auch an den Tatorten über die Anschläge informiert wird.
Als sich im vergangenen Spätsommer der NSU-Mord an dem Nürnberger Blumengroßhändler Enver Şimşek zum 20. Mal jährte, forderte ein breites Bündnis aus SPD, Grünen, Linken, Antifa und Kirchen, die Gedenkorte stärker herauszuheben. So sollten auch Straßen nach den Opfern benannt werden, eine Forderung, die im CSU-regierten Rathaus auf wenig Begeisterung stieß. Aus Kostengründen, wie die CSU-Fraktion sagte. Sie beantragte im Herbst 2020 alternativ, nur eine Asphaltfläche am Tatort, dem Platz, wo Şimşeks Familie am Wochenende weiter Blumen verkauft, in Enver-Şimşek-Platz umzubenennen. Verbunden werden sollte die Neubenennung mit einer Verschönerung des Areals und mit einem Gesamtkonzept für alle vier NSU-Tatorte in der Stadt.
Über die Umbenennung des Platzes hat Nürnbergs Oberbürgermeister Marcus König (CSU) bei der Gedenkfeier am 9. September 2020 mit dem Sohn des NSU-Opfers, Abdulkerim Şimşek gesprochen. Der 33-jährige Şimşek sagt, in die Gestaltung sei er bisher nicht einbezogen worden, doch habe er „volles Vertrauen in die Stadt und den OB“. Alle seien „sehr offen und kooperativ“ gewesen. „Uns geht es um den Platz und nicht um die ganze Straße“, betont er im Namen der anderen Angehörigen. Er hofft, dass ihm das Konzept noch vorgestellt wird.
Federführend ist dabei das Menschenrechtsbüro der Stadt Nürnberg. Martina Mittenhuber, die Leiterin, sagt, dass außer einer Sitzbank, ein paar Blumenbeeten und eventuell einer runderneuerten Stele keine großen Umgestaltungen an diesem Tatort vorgesehen seien. Die Kosten sollen überschaubar bleiben und notfalls über eine Stiftung finanziert werden. Der Stadtrat soll noch vor der Sommerpause am 21. Juli die Weichen dafür stellen. Die offizielle Umbenennung ist bereits für den 21. Jahrestag des Attentats am 9. September 2021 geplant.
Aktuell steht auf dem Platz eine Info-Stele, für die sich Kirchengemeinden einsetzten und die sie mit Spendengeldern realisierten. Der Text auf der Stele, ein Bibelvers, in dem das Wort „Fremdling“ auftaucht, sorgte für Kritik und Kontroversen. Şimşek stört sich aber nicht daran: „Es ist ein Zitat, in das man nichts reininterpretieren soll“, findet er. Für ihn persönlich ist vor Ort das Foto seines Vaters von größerer Bedeutung, das mit dem Zusatz „Am 9. 9. 2000 von Nazis ermordet, kein Vergeben – kein Vergessen!“ an einem Baum angebracht ist. Angetan ist er von der Absicht des Menschenrechtsbüros, ein digitales Infosystem mit QR-Code zu installieren, das Besuchern der NSU-Tatorte via Smartphone Daten und Hintergründe zum NSU-Terror liefert.
Doch das dauert noch; voraussichtlich bis 2022, wie Mittenhuber erklärt. Dann sollen auch zwei neue Infotafeln angebracht werden: In der Scharrerstraße, wo einmal der Imbiss des 2005 ermordeten Ismail Yaşar stand, und in der Scheurlstraße, wo der NSU 1999 ein Sprengstoffattentat verübte, das bis heute nicht vollständig aufgeklärt ist.
Auch am Tatort des Mordes an Abdurrahim Özüdoğru in der Gyulaer Straße soll es eine Tafel geben. Özüdoğru wurde am 13. Juni 2001 vor einem Wohnhaus erschossen. Einige der heutigen Bewohner des Hauses hatten während des Abstimmungsprozesses Bedenken, wegen möglicher Anschläge von Rechtsextremen. Denn Gedenkorte sind für Nazis neue Ziele.
Beim Polizeipräsidium Mittelfranken sind von 2013 bis 2017 zwölf Vorfälle mit rechtsextremem Hintergrund an NSU-Gedenkorten aktenkundig – vom Beschmieren mit Kot über verunglimpfende Aufkleber bis zum Diebstahl. Obwohl seit gut dreieinhalb Jahren kein neuer Fall dazukam, müsse „an den offiziellen Gedenkorten mit einzelnen Sachbeschädigungen gerechnet werden“, sagt Polizeisprecher Wolfgang Prehl. Er empfiehlt eine Überwachungskamera. Die sei „bei einer Häufung von Fällen hilfreich“.
Auch das Gedenkporträt am Tatort des Mordes an Enver Şimşek musste nach Angriffen schon erneuert und weiter nach oben gehängt werden. Sohn Abdulkerim Şimşek und seiner Familie ist es wichtig, dass der geplante Enver-Şimşek-Platz sauber gehalten wird und keine verletzenden Schmierereien, Sprüche oder Hakenkreuze geduldet werden. Ein Vorteil sei, dass die Familie dort weiter arbeite, sagt Şimşek. „Bei Bedarf können unsere eigenen Leute den Schaden beseitigen.“
Er empfindet das Gedenken in Jena als besonders positiv, wo im September 2020 „mit Fingerspitzengefühl eine ganze Straße in zentraler Lage“ nach seinem Vater umbenannt wurde. Außerdem hält er die Gestaltung des ebenfalls zentralen Mehmet-Kubaşik-Platzes in Dortmund für sehr gelungen.
Auch Barbara John, seit 2011 die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Hinterbliebenen der Opfer des NSU, hält das zentrale Mahnmal in Dortmund für „vorbildlich“. John appelliert eindringlich an alle Städte, bei Gedenkorten „die Angehörigen einzubeziehen und die Inhalte mit den betroffenen Familien abzustimmen“. Als erfreuliches Beispiel hebt sie Erfurt hervor, Regierungssitz des Bundeslandes Thüringen, aus dem die Täter stammen: Dort soll im Herbst 2021 vor dem Parlament ein Gedenkort entstehen. Dieser werde in einer „vorbildlichen Zusammenarbeit“ seitens der Stadt mit den betroffenen Familien und ihr entwickelt.
Für Nürnberg, „das wegen der drei Morde eine besondere Verantwortung gegenüber den Familien der Opfer hat“, wünscht sich John mit Blick auf die Zukunft, dass die Stadt „den Mut hat, in einer zentralen Lage ein Mahnmal zu schaffen, wo es viele wahrnehmen“. Nur so könne verhindert werden, dass die NSU-Strategie nachträglich doch noch aufgehe – und Tatorte in Randlage und mit schnellen Fluchtwegen dafür sorgten, die Täter zu schützen und die Ermordeten schnell in Vergessenheit geraten zu lassen.
JO SEUSS . taz. die tageszeitung . vom 28. 5. 2021 . inland . s. 07
da liegt nicht nur staub in den ecken - auch in oświęcim und anderswo
Sarid, Yishai: Monster, Verlag Kein & Aber 2019 - Ein Roman zur Interna der Erinnerungskultur
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Am Ende des Romans steht eine Eskalation: ein Faustschlag, mit dem ein Tourguide in Treblinka einen Dokumentarfilmer niederstreckt. Doch wie konnte es dazu kommen? In einem Bericht an seinen ehemaligen Chef schildert der Mann, wie die Menschen, die er jahrelang durch NS-Gedenkstätten führte, mit der Erinnerung an den Holocaust umgehen. Er fragt nach der Verbindung zwischen Juden damals und Israelis heute, nach Machtverherrlichung und danach, was Menschen zu Mördern macht. Und er beobachtet Schülergruppen, die sich in Fahnen hüllen, scheinheilige Minister oder manipulative Künstler, er beobachtet, wie ein jeder in dem Grauen der Geschichte vor allem eines zu erkennen meint: einen Nutzen für sich selbst.
Yishai Sarid, einer der bekanntesten Autoren Israels, wirft in seinem Roman ein neues Licht auf die Erinnerungskultur, wagt sich an vermeintlich unantastbare Fragen und stellt in stillem, unaufgeregtem Ton eingefahrene Denkmuster infrage. (Klappentext Amazon)
ähhh - das ist seit vorgestern meine lektüre, auf die ich über umwege im netz irgendwie gestoßen bin. ja - mir fällt gerade kein anderes wort ein - aber irgendwie "eruptiv" ergießt sich für mich dieser text von 2017 (deutsch wohl 2019) des in tel aviv geborenen autors yishai sarid wie eine fontäne in großer ungeschminkter ehrlichkeit zu einem nicht nur für einen geborenen israeli äußerst heiklen gesamtthema mit allen ecken & kanten und moralischen peinlichkeiten des gedenkens und erinnerns und pflichttrauerns...
der roman "monster" setzt sich nämlich in der person eines "tourguide", der israelische schulklassen und soldatengruppen durch kz's führt und darüber immer stärkeren irritationen unterliegt, mit der heutigen verarbeitung der naziverbrechen auseinander...
ich kann das hier nicht "besprechen" - du musst das lesen, um vielleicht in etwa nachzuvollziehen, was ich meine, was mich da "anrührt". da wird viel ausgesagt zum gedenken - zum verordneten gedenken - zum pflichtgedenken mit all seinen staubigen oder überstrapazierten dreckecken neben dem absingen der hymnen - auch hierin deutschland - bei den gedenkstunden zum 27.01. beispielsweise und zur "reichspogromnacht" - und wie das alles heißt - zu den schulabschlussfahrten nach auschwitz mit abschiedsfete und dem rauschausschlafen auf einer betonstele im stelenfeld für die holocaustopfer in berlin. - und den langweiligen gesichtsausdrücken mancher schüler, wenn ich ihnen vom euthnasieschicksal meiner tante berichte ... - oder ihrem eingeübten "betroffensein" ... si
und ein zitiertes (unvollendet vollendetes) gedicht aus dem buch muss ich noch wiedergeben:
hier in diesem Transportbin ich Evamit Abel meinem Sohnwenn ihr meinen großen Sohn sehtKain Adams Sohnsagt ihm daß ich
»Wir wissen am Ende dieses cleveren und erschütternd kraftvollen Buches, dass das Monster der Erinnerung weiter frisst. Es wird niemals satt.« --Münchner Feuilleton
»Yishai Sarid macht mit seinem kleinen, leisen Buch unmissverständlich klar: Es gibt Verdrängung, aber kein Ende der Erinnerung.« --Deutschlandfunk Kultur
Detailgenau führt Yishai Sarid seine Leser ins Labyrinth dieser Erinnerungsmoral. Ein Buch wie ein Schlag in den Magen. Mit Demut zu lesen.« --Bayern 2
»Monster ist der literarische Nachvollzug einer moralischen Zerrüttung angesichts des Endes der Zeitzeugenschaft, die uns mit dem Holocaust verbindet. Mit schonungsloser Meisterschaft geschrieben, zielt es in das taube Herz der Gedächtniskultur.« -- FAZ
»Er hat eine nüchterne Schreibhaltung gewählt, was für eine beeindruckende Leistung. Akribisch genau und scheinbar ohne ein Gefühl zuzulassen hat er das vielleicht Schwierigste zwischen Juden, Israelis und nichtjüdischen Deutschen zum Thema gemacht.« -- NDR1 Kulturspiegel
Eine weitere Besprechung aus berufenem Mund: click here
Erinnerungskultur: Was wir alles nicht (mehr) wissen
Schwindet die Erinnerung an die NS-Zeit? So einfach ist
das nicht. Forscher Michael Papendick über Unwissenheit, Angriffe von Rechts und Wohlfühlerinnerungskultur.
Von Angela Wiese | Neue Westfälische 26.01.2021
Sie forschen am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld auch zur Erinnerungskultur in Deutschland. Welchen Stellenwert hat der Holocaust darin heute?
Michael Papendick: Wir finden in unseren Studien keinen Überdruss bei der Frage nach der Auseinandersetzung mit dem NS, sondern eher, dass Menschen in Deutschland sich weiter für das Thema interessieren. Wir sehen in den Studien auch, dass sich Menschen über alle Altersgruppen hinweg weiter mit der NS-Zeit auseinandersetzen. Einschränkend würde ich daraus aber nicht ableiten, dass wir ausreichend gut über die NS-Zeit und ihre Hintergründe Bescheid wissen. Dadurch, dass das Thema so präsent ist, laufen wir vielleicht sogar Gefahr, dass wir überschätzen, wie viel wir über diese Zeit wissen und ausklammern, was wir alles nicht wissen. Eine Interessensbekundung allein reicht hier nicht aus.
Verändert sich etwas in der deutschen Erinnerung an den Holocaust?
In den Studien noch nicht. Aber zwei Sachen verändern sich auf jeden Fall. Zum einen die Menschen. Jüngere Generationen befassen sich mit dem Thema auf anderen Wegen als ihre Eltern und Großeltern. Zum anderen sterben die letzten Zeitzeugen, die immer eine besondere Rolle in der Aufrechterhaltung der Erinnerung gespielt haben. Man sieht aber gleichzeitig, dass es immer neue Formate der Auseinandersetzung gibt, zum Beispiel mit digitalen Zeitzeugen und Videospielen. Jüngere Generationen könnten außerdem mit einem objektiveren Blick auf die NS-Vergangenheit schauen, weil zu vermuten ist, dass sie weniger stark von familiären Verzerrungen geprägt werden als die Generationen davor.
Laut Ihren Studien sind in der deutschen Gesellschaft teilweise Perspektiven und Narrative über die NS-Zeit verbreitet, die sich mit historischen Fakten nur schwer in Einklang bringen lassen.
Am prägnantesten ist das bei der Frage nach dem Wissen über die Rolle der eigenen Vorfahren in der NS-Zeit. In den Antworten von 2019 sagen 36 Prozent, unter den eigenen Vorfahren waren NS-Opfer. Nur 20 Prozent sagen, dass ihre Vorfahren zu den Tätern gehörten. 29 Prozent sagen, Vorfahren von ihnen haben Opfern geholfen. Es gibt keine eindeutigen Zahlen dazu, zu welchen Anteilen die Deutschen in den Nationalsozialismus involviert waren. Aber mit den genannten Zahlen scheint das Ausmaß des Holocaust schwer zu erklären. Es gibt eine Verschiebung hin zu Opfer- und Helfer-Narrativen.
Bei den Protesten gegen die Corona-Politik benutzten einige Teilnehmer Symbole aus dem Nationalsozialismus, um sich selbst als Opfer zu inszenieren. Ist das eine gezielte Provokation von Rechts oder schlicht Unwissenheit?
In den allermeisten Fällen halte ich das für eine ganz klare Provokation von Rechts. Es gibt überhaupt keine Rechtfertigung oder Notwendigkeit dafür, im Kontext der Corona-Pandemie Bezüge zur NS-Zeit herzustellen und damit das Leid der Opfer während der NS-Zeit zu verhöhnen. Wenn sich jemand entscheidet, diese Symbole zu verwenden, ist das Ausdruck einer menschenverachtenden Einstellung. In allen anderen Fällen darf eine vermeintliche Unwissenheit keine Entschuldigung sein.
Haben Sie die Bilder von NS-Symbolen bei den Protesten überrascht?
Holocaustleugnung und Geschichtsrevisionismus sind altbekannte Phänomene in der rechtsextremen Szene. Man hätte das also erwarten müssen. Trotzdem war ich sprachlos darüber, mit was für einer Schamlosigkeit und in welchem Ausmaß das Leid von Menschen dort relativiert wurde. Auch wie wenig Gegenwehr das ausgelöst hat.
Steckt die deutsche Erinnerungskultur aus Ihrer Sicht in einer Krise?
Ich glaube, man könnte der deutschen Erinnerungskultur vorwerfen, dass sie sich in einer sehr bequemen Position eingerichtet hat, eine Art Wohlfühlerinnerungskultur. Erinnerungskultur muss vielleicht wieder provokanter werden in dem Sinne, dass man nicht nur an etwas erinnert, sondern auch eine aktive Auseinandersetzung mit Geschichte fördert. Wenn die Aufgabe von Erinnerungskultur sein soll, dass wir das etwas plakative "Nie wieder!" aufrechterhalten, müssten wir angesichts der antisemitischen und menschenfeindlichen Einstellungen, die wir heute in unserer Gesellschaft finden, durchaus von einer Krise sprechen. Aber es kann auch nicht Aufgabe von Erinnerungskultur allein sein, das zu schaffen. Da müsste jeder Einzelne von uns sich fragen, für welche Dinge er heute keine Verantwortung übernimmt, obwohl wir alle die Vergangenheit kennen.
Welche Rolle spielt die AfD?
Die AfD hat in der Vergangenheit wiederholt die Erinnerung an die NS-Zeit schamlos angegriffen und versucht dabei auch immer wieder, dieses Opfernarrativ in politische Debatten zu integrieren. Teile der AfD vertreten auch die Meinung, dass Deutschland Opfer der Erinnerungskultur an die NS-Zeit ist, sprechen vom "Schuldkult". Dabei ist diese "Schuldkult"-Idee empirisch nicht haltbar. Wir finden keine Schuldgefühle unter Deutschen, sondern eher eine pro-aktive Auseinandersetzung und Interesse. Diese Täter-Opfer-Umkehr macht die AfD mit System. Das ist natürlich gefährlich, weil man sich in einer Opfer-Rolle nicht verantwortlich fühlen muss.
Brauchen wir eine neue Erinnerungskultur?
Wir haben eine ritualisierte Auseinandersetzung mit Geschichte, zum Beispiel mit Gedenktagen. Auch das ist wichtig, um als Land die Bedeutung des Themas hervorzuheben.
Massiver Vorwurf
Joe Biden übt scharfe Kritik an KZ-Gedenkstätte Dachau
Der künftige US-Präsident wirft der Einrichtung in seinem autobiografischen Buch Geschichtsklitterung vor. An der Gedenkstätte ist man irritiert.
Von Helmut Zeller, Dachau
Landtagsvizepräsident Karl Freller (CSU), Direktor der bayerischen Gedenkstättenstiftung, ist am Freitagnachmittag gerade auf dem Weg zu seinem Heimatort Schwabach bei Nürnberg, als ihn die
erstaunliche Nachricht ereilt. Joe Biden, der demnächst als 46. Präsident der USA ins Weiße Haus einzieht, hat der KZ-Gedenkstätte Dachau Geschichtsklitterung vorgeworfen. Ein massiver Vorwurf, der
die Mitarbeiter der bedeutendsten KZ-Gedenkstätte mit jährlich knapp einer Million Besucher aus dem In- und Ausland ziemlich erstaunt hat. "Ich werde Joe Biden gleich, wenn ich zuhause bin,
schreiben, ihm zu seiner Wahl gratulieren und ihn nach Dachau einladen", sagt Stiftungsdirektor Freller. Den Vorwurf weist der CSU-Politiker indes entschieden zurück. Da muss Joe Biden einen falschen
Eindruck bekommen haben, meint auch die Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann, die von der Kritik Joe Bidens "sehr überrascht" worden ist.
Es war im Februar 2015. Der damalige US-Vizepräsident Biden besuchte mit seiner 15-jährigen Enkelin Finnegan die Gedenkstätte in Dachau, "ganz privat", und mit einem Konvoi von Fahrzeugen und einer großer Zahl an Bodyguards im Schlepptau. Joe Biden traf den inzwischen verstorbenen Auschwitz-Überlebenden und Vizepräsidenten des Internationalen Dachau-Komitees, Max Mannheimer. Gemeinsam mit der Leiterin und Historikerin Gabriele Hammermann begleitete er den Gast zu den Barackennachbauten, dem historischen Krematoriumsgebäude und der Gaskammer. Von Mannheimer war der Politiker sehr beeindruckt, weniger aber offenbar von der Gedenkstätte selbst. 2017 veröffentlichte Joe Biden ein autobiografisches Buch, in dem er der Gedenkstätte vorwarf, den Gedenkort umgestaltet zu haben, "um es für die Besucher weniger bedrückend zu machen". Der Band "Versprich es mir", damals in den USA ein Bestseller, liegt nun in deutscher Übersetzung vor. Die bislang nicht bemerkte Passage grub ein Journalist des Spiegel aus.
Sein Urteil stützt Joe Biden auf mehrere Besuche der Gedenkstätte Dachau, in den Achtziger Jahren mit Sohn Beau, später mit Sohn Hunter und Tochter Ashley. Damals habe er Namen gesehen, die Häftlinge in die hölzernen Bettgestelle in den Baracken geritzt hätten. 2015 hingegen kamen ihm die Betten "sauber", die Gestelle "frisch lackiert" vor. Die "grausamen Einzelheiten" seien über die Jahre "abgemildert" worden, schrieb Biden. Nur, darin täuscht sich der künftige US-Präsident gründlich: Die originalen Häftlingsbaracken sind in den Jahren 1963 und 1964 abgerissen worden; bei den beiden Baracken handelt es sich um Nachbauten, die um 1965 errichtet worden sind - Namen von Häftlingen waren in den Bettgestellen nie eingeritzt. Gedenkstättenleiterin Hammermann erklärt sich das vernichtende Urteil dadurch, dass Joe Biden in früherer Zeit das Gedenkstättengelände über den südöstlichen Zugang betreten hat. 2015 nahm er jedoch den Weg vom neuen Besucherzentrum zum historischen Jourhaus, der keinen Eindruck vom Lager-Terror vermittelt. So weit, sagt die Historikerin, könne sie Bidens Einschätzung sogar folgen. In der geplanten Neugestaltung wolle man die historischen Spuren im Eingangsbereich viel sichtbarer machen. Deshalb wohl sei der Eindruck Bidens entstanden, man habe das ehemalige Lager aufhübschen wollen, was natürlich nicht der Fall sei. Viele Besucher in Dachau wollten ein KZ sehen. Aber es ist nun mal eine Gedenkstätte am authentischen Ort.
Auch Freller will einer fachlichen Auseinandersetzung nicht ausweichen. Seit den Achtzigern und Neunzigern habe sich die Gedenkkultur gewandelt. Man habe die historischen Aufnahmen von Leichenbergen zurückgefahren, weil man zur Überzeugung gelangt sei, dass dies die Würde der Opfer verletze und etwa Kinder unter den Besuchern Schaden zufügen könne. Aber man könne darüber diskutieren, in wieweit das Grauen des Naziterrors abgebildet werde. Letztlich geht es um die zentrale Frage: Wie könne man die Wirklichkeit in der Zeit des Naziregimes adäquat abbilden, sagt die Historikerin Hammermann.
Auch die Auschwitz-Überlebende und Schriftstellerin Ruth Klüger warf einen kritischen Blick auf die Gedenkstätten. Nach ihrem Dachau-Besuch schrieb sie: "Da war alles sauber und ordentlich, und man brauchte schon mehr Fantasie, als die meisten Menschen haben, um sich vorzustellen, was dort vor über vierzig Jahren gespielt wurde." Zurzeit wird der Dokumentarfilm in der Ausstellung, der unmittelbar nach der Befreiung von den Alliierten gedreht worden war, durch einen neuen ersetzt - die Bilder der Leichenberge sind dann nicht mehr vorhanden. Auch Überlebende wie der Israeli Abba Naor haben da ihre Zweifel.
Karl Freller findet die Kritik Bidens gar nicht so schlimm. Wenn schon ein US-Präsident sich mit Dachau beschäftigt, wie Freller sagt, dann beweist das doch die weltweite Bedeutung der KZ-Gedenkstätte und das zeigt deutlich, dass staatliche Finanzmittel dafür gut eingesetzt sind - auch in der Corona-Krise, in der er Einsparungen befürchten muss.
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also - ich könnte mir auch vorstellen, dass joe biden als privatmensch auf einer eben solchen privaten "kz-sightseeing-tour" mit seinen kindern vor jahren vielleicht ein weiteres lager besucht und besichtigt hat, das etwas "authentischer" auf ihn gewirkt hat - und einen anderen eindruck hinterließ.
ich finde, dass wir die ns-gräueltaten nun nicht nach 80 jahren besonders schönen müssen, weil der "erinnerunge-zeitgeist" eben ein anderer geworden sei.
wenn jetzt die echten zeitzeugen als authentische überlebende immer weniger werden aus biologischen gründen - und die gedenkstätten inzwischen auf aufgezeichnete virtuelle hologramm-formen statt ihrer zurückgreifen, dann ist das zwar immer noch besser als berichte aus der reinen (video)retorte - aber es wird auch immer steriler und in irgendeiner weise - aus "modernen" museums-didaktischen überlegungen heraus - "bekömmlicher" gestaltet, damit man nach der besichtigung mit erläuterungen dann auch im gedenkstätten-cafe vielleicht noch umsätze generieren kann - um das mal etwas makaber zu formulieren.
man muss nicht mit einer holzhammer-methode auf die jungen besucher eindreschen und sie schockieren wollen - doch ist "diese jugend von heute" durch zum teil brutale internet- und science-fiction-videospiele auch durchaus ein gewisses "niveau" längst "gewohnt".
und nur mit einer eindringlichen und authentisch ehrlichen darstellung der wirklichkeiten damals und deren einfluss-umfeld wird man heutzutage einem diesbezüglichen bildungsauftrag gerecht - nicht durch gebremsten und schonenden schaum.
und auf der bus-rückfahrt vom "kz-ausflug" darf es ruhig mal bedrückt leise sein - ein bleibendes erlebnis mit tiefgang & nachhaltigkeit, von dem noch ein lebenlang weiterberichtet werden kann -"bis ins dritte & vierte glied" in den nachfolgenden generationen. (siehe dazu auch seite "ns-psychiatrie & euthanasie - infos & news" - und da den bericht über die gedenk-triptychon-kontroverse in kaufbeuren-irsee) si
Gedenkstätte Buchenwald
Schlittenfahrer zwischen
Massengräbern
Besucher sollen die Totenwürde wahren und im ehemaligen KZ jeglichen Wintersport unterlassen: Die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und
Mittelbau-Dora kritisiert Pietätlosigkeiten von Winterausflüglern.
Von 1937 bis 1945 wurden im Konzentrationslager Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar und in seinen Außenlagern fast 280.000 Menschen inhaftiert. Mehr als 56.000 Menschen starben in dieser Zeit an Folter, medizinischen Experimenten und Auszehrung. In einer eigens errichteten Tötungsanlage wurden über 8000 sowjetische Kriegsgefangene erschossen. In diesem Winter fahren Menschen Schlitten zwischen den Gräbern, wie die Gedenkstätte Buchenwald mitteilte.
Einige hätten zuletzt zwischen und sogar in den dortigen Massengräbern ihre Rodelschlitten benutzt, kritisierte die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora am Donnerstag in Weimar.
Einige der Schlittenspuren
endeten auf den Gräbern
Jens-Christian Wagner, Direktor der
Stiftung Gedenkstätten
Buchenwald und Mittelbau Dora
Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dora, beklagt das Verhalten von Winterausflüglern an der Mahnmalsanlage
für die NS-Opfer als pietätlos. »Am Wochenende hatten wir hier Massenbetrieb«, sagte Wagner dem SPIEGEL. Sämtliche Parkplätze seien belegt gewesen – nicht von Besuchern der Gedenkstätte, sondern von
Wintersportlern. »Einige der Schlittenspuren endeten bei den Gräbern.«
Er könne zwar nachvollziehen, dass in diesen Zeiten viele Menschen mit ihren Kindern in die Natur wollen, aber Schlitten könne man auch woanders fahren. Immer wieder gebe es Menschen, die sich in den Gedenkstätten unangemessen verhielten. Manche Menschen würden mit ihren Hunden dort Gassi gehen, eine Frau habe mit einer Musikanlage mal Sport gemacht. »Mit dem zeitlichen Abstand nimmt die historische Sensibilität ab.«
Besucher sollten die Würde der Toten wahren und im gesamten Bereich des ehemaligen Konzentrationslagers und der Friedhöfe jeglichen Wintersport unterlassen. »Sportliche Aktivitäten sind hier ein Verstoß gegen die Besucherordnung und eine Störung der Totenruhe.« Wagner bat um Verständnis dafür, dass aus diesem Grund mehr Sicherheitskräfte eingesetzt und Zuwiderhandlungen angezeigt werden.
kha/AFP/spiegel.de, 14.01.2021
Vom Zeitgeist Bei Gedenkstättenbesuchen
»QAnon ist nichts anderes als der uralte Mythos vom jüdischen Ritualmord«
Die Thüringer AfD-Fraktion ist bei Veranstaltungen im früheren KZ Buchenwald unerwünscht. Der Gedenkstättenleiter über rechtsextreme Politiker,
Corona-Leugner und fehlende Empathie an Massengräbern.
Ein Interview von Kristin Haug - DER SPIEGEL (click here)
Veranstaltung 2020 zum Gedenken an die Opfer der NS-Euthanasie 2020 am Mahnmal "Blaue Wand" - ein virtueller Gedenktag
Münchener Strafjustizzentrum
Relief zum NSU-Prozess enthüllt
Künstler Sebastian Jung hat am Strafjustizzentrum in München ein Werk enthüllt: Das Relief setzt sich mit dem
NSU-Prozess auseinander und basiert auf Zeichnungen, die der Künstler im Gerichtssaal machte.
youtube-Video & Text: faz.net
na klar - über "kunst" lässt sich bekanntlich streiten: das ganze sieht für mich aus wie
eine brave abschlussarbeit im werkunterricht der 8. jahrgangsstufe: unspektakuläre geistersilhouetten in- und aufeinandereinander angedeutet: die versammlung einer geisterstunde vielleicht
-
und ich bekomme eine geruchsassoziation nicht aus meinem riechsinn, die für mich über diese
szene sanft dahinzuwogen scheint: der blaue duft kubanischer zigarren der teureren sorte: die, die einzeln in silbernen alu-schraub- oder steckröhrchen angeboten werden - und die gerhard schröder
immer von der gazprom als lobbyistengeschenk mitgebracht hat - wenn du verstehst was ich meine ...
und irgendwie hat man hier die erst heute gängigen mundnasen-abdeckmasken zur derzeitigen
coronakrise wie von selbst gleich mit eingearbeitet, wenigstens verlieren sich die angedeuteten geistergesichter unter den beiden augenpunkteinbohrungen jeweils im nichts - wie in einer karikatur ...
- und wie heutzutage eben in jedem kaufhaus und wahrscheinlich auch in jedem gerichtssaal: beim nach dem seuchengesetz angeordneten "masketragen".
aber dieses in diesem werk angedeutete "masketragen" wiederum führt dann die gesamtaussage
dieses reliefs tatsächlich doch noch auf den bodensatz einer tiefgründigeren bedeutungsschwangeren aussage-ebene: ja - genauso - wie hinter mund-/nasenmasken fand dieser nsu-prozess all die
jahre seiner unendlichen zähen dauer statt - mit seinem langatmigen "auf-die-stelle-treten" führt er hier für mich zur wahrscheinlich ungewollt in szene gebrachten abstraktion der jeweiligen
prozess-teilnehmerfiguren, denn jedes be-maskierte geistergesicht fasst irgendwie auch diese altbekannten aussageattribute der berühmten "drei affen" zusammen, die sich
jeweils augen, ohren und mund zuhalten und bedecken: nichts hören, nichts sagen, nichts
sehen: der prozess der stummen und tauben und blinden geister, die ziellos den jeweiligen betrachter fixieren - und auch zum beschweigen, erblinden und ertauben bringen.
ich weiß nicht, ob ich das unter diesen umständen tatsächlich richtig sehe: aber das
relief-material scheint im video wie eine preiswertere grobstrukturierte holzspanplatte - und wenn das tatsächlich so ist, wird sie nicht mal die zeitdauerdistanz des prozesses überstehen und an ihn
erinnern können - und schon vorher dann an altersschwäche zergehen.
aber gut, dass wir mal wieder - nichtssagend - "deutsche erinnerungskultur" so gekonnt in szene
gesetzt haben - und sogar im f.a.z.-feuilleton: das ist ja schon fast der gipfel ...
click here |
Gedenken in Hanau
The National Memorial for Peace and Justice
informell auch als National Lynching Memorial bezeichnet, ist eine nationale Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer der rassistischen Lynchjustiz in den Vereinigten Staaten. Das Memorial befindet sich in Montgomery (Alabama). Errichtet wurde es im Jahr 2018 auf Initiative von Bryan Stevenson, dem Gründer der Equal Justice Initiative (EJI), einer Non-Profit-Organisation aus Montgomery.
Die Gedenkstätte besteht aus 805 in einer Säulenhalle an Trägern hängenden Stahlquadern. Jeder Quader repräsentiert eines der Counties (Bezirke), in denen Lynchmorde stattfanden. Auf den Quadern
stehen die Namen der Opfer dieses jeweiligen Bezirks. Für die Zeit von 1877 bis 1950 wurden durch EJI mehr als 4400 Lynchmorde dokumentiert. EJI geht von Tausenden weiteren undokumentierten Morden
aus. Die Morde erfolgten vorwiegend in 12 Südstaaten. Das Monument ist, nebst lokalen Gedenkstätten wie dem Duluth Memorial, die erste nationale Gedenkstätte, die an die Opfer der Lynchjustiz
erinnert.
Die Gedenkstätte wurde von der MASS Design Group aus Boston gestaltet, und auf einem von EJI gekauften Gelände errichtet.
Außerhalb der Struktur befinden sich weitere 805 identische Stahlquader. Geplant ist, diese Stahlquader in den betreffenden Bezirken als Gedenkstätten aufzustellen.
In der Nähe des Monuments befindet sich das ebenfalls vom EJI erbaute Museum "From Enslavement to Mass Incarceration". Es wurde an dem Platz erbaut, an dem einst versklavte Afro-Amerikaner verkauft worden waren und dokumentiert die Geschichte von Sklaverei, Ausbeutung und Masseneinkerkerung von Afro-Amerikanern.
konnte dieser barbarische eingriff des holocaust in die menschlichkeit "danach" geistige, künstlerische oder
gestaltende leistungen der kulturschaffenden gemeinschaft überhaupt noch zustande bringen - oder konnte die reaktion nur ein tiefes allgemeines beschweigen sein - eine "ohnmacht" - in stiller trauer
sozusagen.
aber die "kultur" ist flexibel - sie hat allmählich - und erst recht 75 jahre nach der befreung von auschwitz -
ihre sprachen wiedergefunden - und hat sich über alle selbst auferlegten ge- und verbote hinweggesetzt.
inzwischen probiert sie sich an "auschwitz" und "holocaust" mit ganz unterschiedlichen herangehensweisen - zumal
ja mit dem allmählichen verschwinden der direkten zeitzeugen auch neue formen der botschaften an die nachgeborenen entwickelt werden müssen.
und so wichtig da auch die gedenkveranstaltungen mit trauermusik und engagierten reden von politikern und
historikern sein mögen, so wichtig ist es aber auch, dass der einzelne mensch im hier & jetzt etwas vom geschehen damals zumindest in etwa "wahrnehmen" kann mit seinen persönlichen und sinnlichen
"antennen" - dass er etwas erspüren kann, auch vermittelt durch moderne medien, im nach- und miterleben.
und das geht nur durch kulturelle aktivitäten, eben auf geistigem, künstlerischen und gestalterischen wegen - im
nachvollziehen von opferschicksalen von damals, flankiert mit nachgestelltem milieu - ganz abstrakt oder konkret - je nach gusto.
ein wegzuwischender "vogelschiss", der endlich im sankt nimmerleinsland verschwindet und untergeht, ist das auf
jeden fall nicht...
die metropolis sondersendung von arte zu dem thema zeigt in 44 minuten jedenfalls eine ganze reihe von
methodischen und didaktischen ansätzen, sich dem "unfassbaren" trotzdem angemessen von verschiedenen ausgangspunkten zu nähern.
vielleicht ist es auch eine inzwischen zeitgemäße anregungs- und motiv-sammlung - die aber auch wieder nur
durchgangsstadien sind zu neuen ufern in der zukunft.
wir werden dieses thema in deutschland hoffentlich nie "überwinden", aber wir müssen angemessen und würdevoll
lernen damit zu leben - zumindest "bis ins dritte und vierte glied" - und darüber hinaus.
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Kunst nach Auschwitz
75 Jahre Befreiung Auschwitz. Das schrecklichste je begangene Morden stieß auch die Kunst in eine tiefe Sinnkrise.
„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch!“ proklamiert Theodor Adorno nach Kriegsende. Der Satz wurde als generelles Verdikt gegen jegliche Dichtung wie auch Kunst im Allgemeinen nach
dem Holocaust, als konkretes Darstellungsverbot von Kunst über Auschwitz und die Konzentrationslager oder als bloßes provokatives Diktum verstanden. Die Auseinandersetzung um Adornos Satz wurde zum
vielleicht wichtigsten Drehpunkt des ästhetischen Diskurses der Nachkriegszeit. Doch die Ermordung von Millionen Menschen duldet kein Vergessen. „Metropolis“ spricht mit Aleida Assmann und dem
Zentrum für politische Schönheit. Wie kann eine angemessene poetische Form der Erinnerung aussehen? Und wie lässt sie sich lebendig halten, wenn die letzten Zeitzeugen verstorben sind?
Esther Bejarano - Die Akkordeon-Spielerin von Auschwitz.
Das Akkordeon hat Esther Bejarano im KZ Auschwitz das Leben gerettet. Heute macht die 95-Jährige wieder Musik – gegen Neonazis und das Vergessen. Seit zehn Jahren steht sie mit der Rap-Gruppe
„Microphone Mafia“ auf der Bühne. Als eine der letzten lebenden Zeitzeugen von Auschwitz besucht sie Schulen und beantwortet Fragen zum dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte.
„Third Generation - Next Generation“
Die israelische Regisseurin Yael Ronen hat ihr Stück im Berliner Gorki-Theater nach zehn Jahren neu inszeniert.
Ronen lässt eine Gruppe israelischer, palästinensischer und deutscher Schauspieler auf der Bühne aufeinander los. Mit bitterbösem Humor und politisch völlig inkorrekt pfeffern sich die Akteure
gegenseitig ihre Biografien um die Ohren. Die dritte Generation nach Auschwitz spielt so schonungslos mit Täter, Opfer und Gutmensch, dass man bald nicht mehr weiß, ob man lachen oder weinen
soll.
Stimme der dritten Generation:
Benyamin Reich
Der israelische Fotograf zeigt, wie man heute mit der deutsch-jüdischen Vergangenheit leben könnte.
Ein Nazioffizier heiratet eine Jüdin. Überlebende des Anschlags auf die Synagoge von Halle posieren für Portraits. Benyamin Reich spielt mit Rollen von Tätern und Opfern. Aufgewachsen ist Reich in
einer ultraorthodoxen Gemeinschaft in Jerusalem. Seine Großeltern: Überlebende des Holocaust. Seit Jahren fotografiert Reich jüdisches Leben in Berlin und stellt fest: Versöhnung passiert dort, wo
Begegnung ist.
Maya Jacobs-Wallfisch: „Briefe nach Breslau“
Was es bedeutet, die Tochter einer Holocaust-Überlebenden zu sein?
Maya Jacobs-Wallfisch ist Psychotherapeutin, spezialisiert auf die transgenerationale Weitergabe von Traumata. Ihre Mutter Anita Lasker-Wallfisch überlebte Auschwitz, als Cellistin im Lagerorchester.
Über das Schweigen der Mutter über den Holocaust und die Schwierigkeiten, im London der Nachkriegsjahre die eigene Identität zu begreifen, hat sie jetzt ein Buch geschrieben.
Erez Kaganovitz – “Humans of the Holocaust”
Erinnerungskultur in Popkulturästhetik: Das Social-Media Projekt entstand, als Fotojournalist Erez Kaganovitch auf beunruhigende Schlagzeilen stieß: Die Hälfte der Millenials in den USA haben noch
nie von Auschwitz gehört! Kaganovitz – selbst Enkel von Holocaust-Überlebenden – erzählt die Geschichten der Überlebenden, ihrer Kinder, sowie der Juden auf der ganzen Welt - in humorvollen und
unkonventionellen Bildern.
Aus der Serie SINN & VERSTAND
Erinnerungskultur
Was kann man von den Deutschen lernen?
Trotz Hanau – kein anderes Land der Welt hat sich seiner Vergangenheit so ermutigend gestellt.
Von Susan Neiman in der ZEIT 11/2020
Die Vergangenheit ist präsent: Foto von Klaus Pichler aus der
Serie "Staub", 2010. © Klaus Pichler/Anzenberger (aus der Serie "Dust" 2010)
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Wer im Frühjahr 2020 in Deutschland behauptet, die Welt könne etwas von den Deutschen lernen, erntet nicht
nur Verwunderung, sondern Spott; vor allem, wenn es um den originärsten aller deutschen Exporte geht: die Vergangenheitsaufarbeitung. Der Begriff "Erinnerungskultur" ist mir zu euphemistisch: Es sind
schließlich nicht beliebige Erinnerungen, die hier wachgehalten werden sollen. Im Vordergrund steht das Erinnern an Traumata, und zwar in erster Linie an solche, die das eigene Land produziert hat.
Bewältigt werden können solche Traumata vermutlich nie, doch ähnlich wie Schuld können sie aufgearbeitet werden, auch wenn eine Restschuld immer bleibt. Meine These: Kein anderes Land der Welt hat
sich annähernd einer solchen Aufgabe gestellt. Um sie vollständig erfüllen zu können, muss man zuerst würdigen, was bisher geleistet worden ist.
Schon lange vor den jüngsten Terroranschlägen begegnete ich immer wieder Deutschen, die diese These als Beweis
dafür sehen, dass Amerikaner hoffnungslos naiv bleiben. Ob ich denn nicht wisse, wie lange die Deutschen gebraucht hätten, um sich statt als größte Opfer als größte Täter zu betrachten? Ob ich denn
nicht wisse, dass es immer noch Rassismus in Deutschland gebe, wofür gegenwärtig die AfD stehe? Der NSU? Halle?
Da ich seit 1982 überwiegend in Berlin lebe, ist mir das alles nicht entgangen. Zwar bin ich weder Historikerin
noch Soziologin, sondern Philosophin. Doch habe ich seit Jahrzehnten diese Nation intensivst beobachtet – zunächst, um herauszufinden, ob Berlin ein Ort sei, an dem ich jüdische Kinder erziehen
wollte. Ende 1988 habe ich mich dagegen entschieden. Im Jahr 2000 – nach der Wahl der rot-grünen Regierung, nach der Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes und einigen Entwicklungen mehr – kehrte ich
mit meiner Familie zurück, denn die zaghafte Aufarbeitung, die in den Achtzigerjahren angestoßen wurde, hatte sich verwurzelt.
Heißt das, dass Deutschland die oft ersehnte Normalität erreicht hatte? Natürlich nicht. Es gibt zu viel
Geschichte, zu wenig Selbstbewusstsein, zu viel Bewusstsein dessen, wie man von außen wahrgenommen wird, als dass dieses Land als normal gelten könnte. Doch das Wehklagen darüber, (noch) nicht normal
zu sein, ist erstaunlich kurzsichtig. Auch Israel sehnt sich nach Normalität; Irland war dabei, sie zu erlangen, bevor der Brexit einen Strich durch die Rechnung machte. Apropos Brexit: Ist
Großbritannien – diese einstige Weltmacht, die sich über Fragen ihrer Identität geradezu zerreißt – normal? Statt nach einer vermeintlichen Normalität zu suchen, die kaum ein Land, genau betrachtet,
wirklich besitzt, sollte Deutschland eher schätzen lernen, was es in seiner Art, nicht normal zu sein, tatsächlich erreicht hat.
Nun verstehe ich deutsches Selbstmisstrauen, auch wenn es die Kehrseite von deutschem Größenwahn ist. Schon der
Anstand verbietet es, sich mit der gelungenen Aufarbeitung der eigenen Schuld zu brüsten. Zugleich gilt es als Tabu, die nationalsozialistischen Verbrechen mit Verbrechen in anderen Ländern zu
vergleichen, wohl auch deshalb, weil die Nationalsozialisten selbst gern Vergehen anderer Länder ins Feld führten, um die eigenen zu relativieren. So sollte etwa der Mord an den Native Americans den
deutschen Drang nach osteuropäischem Lebensraum legitimieren.
Ich versuche, mich an Tzvetan Todorovs weise Maxime zu halten: Deutsche sollten über die Singularität des
Holocausts reden, Juden über seine Universalität. Nur wer meint, Aussagen erschöpften sich in ihrem Wahrheitswert, wird Todorovs Ausspruch problematisch finden. Wie uns die Sprachphilosophie lehrt,
sind Aussagen nicht nur Feststellungen, sondern Handlungen. Deutsche, die von der Singularität des Holocausts sprechen, übernehmen Verantwortung; Deutsche, die von seiner Universalität sprechen,
suchen Entlastung.
Nachhilfestunde aus dem Herzen der Finsternis
Als Jüdin darf ich aber über die Universalität des Holocausts nachdenken und mit Sorge feststellen, dass "Nazi"
außerhalb Deutschlands weniger eine politische als eine metaphysische Kategorie geworden ist. Nazi heißt einfach: der Inbegriff des Bösen, der Abgrund im Herzen der Geschichte. In einer Welt, in der
jede moralische Aussage mit zunehmender Skepsis betrachtet wird, mag man froh sein, auch irgendwo Einigkeit zu finden. Doch ein Symbol für das absolut Böse liefert einen Superlativ, an dem gemessen
jede andere Gräueltat wie ein Kavaliersdelikt wirkt. Um es psychoanalytisch auszudrücken: Der Fokus auf Auschwitz ist eine Verschiebung dessen, was wir über andere nationale Verbrechen nicht wissen
wollen.
Diese Verschiebung ist in England wohl noch stärker ausgeprägt als in den USA, doch mir war es vor allem wichtig,
den Amerikanern zu sagen, sie könnten eine Nachhilfestunde aus dem Herzen der Finsternis gebrauchen. Der unmittelbare Anlass, ein Buch darüber zu schreiben, war das Massaker von South Carolina, bei
dem 2015 neun schwarze Kirchenbesucher während einer Bibelstunde erschossen wurden. Der Täter war ein junger weißer Mann, der auf Fotos stolz rassistische Symbole wie die Fahne der Konföderation
präsentierte. "Reißt die Fahne herunter!", rief Präsident Obama bei der Trauerrede. Schon lange hatte man gegen seine Präsidentschaft mit dem Mantra gepöbelt, das Weiße Haus solle weiß
bleiben.
Doch die Morde in einer Kirche, die Würde der Hinterbliebenen und die Eloquenz des Präsidenten einigten die Nation
zunächst. Zwei republikanische Gouverneure folgten Obamas Appell und überließen die Fahnen den Museen. Amerikas größtes Warenhaus verkündete, keine Symbole der Konföderation mehr zu führen. Das Land
schien begriffen zu haben: Wenn Rassismus und Gewalt in der Geschichte verschwiegen und verharmlost werden, leben sie in der Gegenwart fort. Später würden wir erfahren, dass Trumps Berater Steve
Bannon seine Leser ermunterte: Haltet die Fahnen hoch! Doch wer achtete damals auf Steve Bannon?
Eine amerikanische Vergangenheitsaufarbeitung war im Gang, und ich wollte dazu beitragen. Mir war bewusst, dass die
Erfahrung eines Landes nie direkt auf ein anderes übertragen werden kann, und so verbrachte ich ein halbes Jahr in Mississippi, um die dortigen Auseinandersetzungen mit dem Rassismus der Geschichte
und der Gegenwart zu reflektieren, bevor ich Lektionen aus der deutschen Nachkriegszeit weitergab. Zwar ist der amerikanische Rassismus nicht nur im Süden vorhanden, doch der Umgang mit der
Geschichte ist dort allgegenwärtig.
Allerdings ist die Geschichte, die dort erzählt wird, eine Opfergeschichte: Im Bürgerkrieg waren die Südstaatler
Freiheitskämpfer, die ihre Heimat verteidigen wollten, aber sie wurden von der Übermacht des Nordens geschlagen. Wie nobel die Demut dieser Opfer war, wie schrecklich ihre Demütigungen: Schlimm
genug, dass die Städte in Schutt und Asche lagen, die überlebenden Männer verwundet oder gefangen, die Frauen und Kinder dem Hungertod nah. Doch am allerschlimmsten waren die fremden Besatzer. So
vulgär wie unwissend, schoben sie ihnen die Kriegsschuld in die Schuhe! Wer die Untertöne der frühen Bundesrepublik wahrgenommen hat, dem wird es nicht schwerfallen, hier Parallelen zur deutschen
Geschichte zu erkennen.
Richard von Weizsäckers berühmteste Rede ist immer wieder kritisiert worden, weil sie eine Befreiung ausrief, die
wenige Deutsche 1945 begrüßten. Doch wer die Stimmung, die 1985 herrschte, begriffen hat, kann die Bedeutung jener Rede ermessen. Der Zusammenbruch, wie es vorher in der Bundesrepublik hieß, war
Gegenstand der Trauer gewesen; nach der Rede war er eine Rettung, die gefeiert werden konnte. Dieser Perspektivwechsel ist eine Leistung, die dem amerikanischen Süden nach 150 Jahren noch nicht
gelungen ist. Dort wird am Opfernarrativ festgehalten, tausendmal verewigt in Denkmälern für Soldaten, in Fahnen, die vor Staatsgebäuden wehen, in Liedern, die ahnungslos gesungen werden, in
Geschichten, die über Generationen hinweg erzählt werden.
Neuerdings kann man den Anfang einer solchen perspektivischen Wende in der amerikanischen Öffentlichkeit
wahrnehmen: Ja, der Süden hat im Krieg gelitten, aber er hat den Krieg auch angefangen, und zwar nicht aus dem vagen Wunsch heraus, "die Rechte der Bundesstaaten" zu verteidigen, sondern das Recht,
andere Menschen auf ewig zu versklaven.
Scham tut gut, denn nur durch Scham wird eine Gesellschaft verändert
Diese aktuelle Auseinandersetzung um das wichtigste Ereignis der US-amerikanischen Geschichte hat mit der Gegenwart
zu tun. Seit Ende 2016 kommt es nicht nur im Süden, sondern landesweit zu Hakenkreuzschmierereien, werden jüdische Synagogen und afroamerikanische Kirchengemeinden angegriffen, und im Weißen Haus
sitzt ein Mann, der tobende Nazis in Fackelzügen "sehr feine Leute" nennt. Auf einmal wurde es klar: Nazis sind nicht nur ein deutsches Problem. Vergleiche, die einst provozierend wirkten, sind
Amerikanern nicht mehr fremd. Anstatt abzuwehren, wollen sie wissen: Wie haben es die Deutschen geschafft, aus Nazis Demokraten zu machen?
Scham tut gut, denn nur durch Scham wird eine Gesellschaft verändert, erzählte mir Bryan Stevenson, dessen
National Lynching Memorial das wichtigste Zeugnis eines neuen amerikanischen Bewusstseins ist. Der Anwalt, der vor allem schwarze Gefangene vor der Todesstrafe rettet, war beeindruckt von der
Weise, in der die Reflexion der Vergangenheit auf die deutsche Gegenwartspolitik einwirkt. In Deutschland haben ihn Denkmäler wie die Stolpersteine beeinflusst; die von ihm ins Leben gerufene
Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer der rassistischen Lynchjustiz will ein Gegenstück zu den noch herrschenden Narrativen in die Landschaft schreiben.
Paradoxerweise ist für Aktivisten wie ihn geradezu ermutigend, was Deutsche zu Recht beklagen: wie viel Zeit es
brauchte, bis ein echter Perspektivwechsel eintrat und sich das Selbstbild der Deutschen vom Kriegsopfer zum Kriegstäter wandelte. Diese Ermutigung wirkt umso stärker, als von außen betrachtet kaum
nachzuvollziehen ist, dass die Täternation einst in Selbstmitleid versank. Denn das Nachkriegsbild, das um die Welt ging, war das Bild, das das Ausland sehen wollte: Willy Brandt auf den Knien in
Warschau, 1970.
Die Geste der Reue war die Geste, die erwartet wurde. Wer wusste schon, dass Brandt in Deutschland in breiten
Bevölkerungskreisen als Vaterlandsverräter galt; dass die Emigration, die ihn in unseren Augen zum guten Deutschen machte, ihn zu Hause zum schlechten Deutschen abstempelte? Von diesen Widerständen
auf dem Weg der Vergangenheitsaufarbeitung zu hören hat meine amerikanischen Kollegen erleichtert.
Wenn selbst die Nazis und ihre Mitläufer Jahrzehnte brauchten, um den Wahrnehmungswandel vom Opfer zum Täter zu
vollziehen, gibt es Hoffnung, dass auch andere diesen Weg erfolgreich zurücklegen können. Die Tendenz, das eigene Leid über alles zu stellen, ist so universell wie die Abwehr von Schuld und Scham.
Wenn Deutschland beides – zum großen Teil – überwinden konnte, dann könnte es anderen Länder auch gelingen. Dennoch wird in Deutschland immer wieder das Unbehagen an der eigenen
Vergangenheitsaufarbeitung formuliert. Sie sei zu ritualisiert, zu theatralisch, zu rhetorisch; zu wirkungsarm, um die AfD zu beseitigen, oder umgekehrt so allgegenwärtig, dass sie jedes gesunde
Nationalgefühl ersticke. Mit anderen Worten: Sie ist unvollkommen. Wie denn auch nicht?
Die zivilisatorische Leistung, die sie darstellt, ist erstmalig in der Geschichte und sollte als work in progress
verstanden werden. Es ist eine Aufgabe, an der kontinuierlich gearbeitet werden muss, gerade weil es keine narrensichere Schutzimpfung gegen Rassismus und Reaktion gibt. Während die AfD Jahrzehnte
der Bemühungen, die Nazi-Vergangenheit aufzuarbeiten, als beschämend denunziert, ist es uns anderen aufgegeben, darauf zu bestehen, dass Scham der erste und notwendige Schritt zu einem demokratischen
Selbstbewusstsein einer Nation ist.
Die größte Lücke der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung wird allerdings selten erwähnt: die nahtlose Aufnahme von
Kerngedanken der Nazi-Ideologie durch das, was Willi Winkler in seinem Buch Das braune Netz "verordneter Antikommunismus" nennt. Danach seien Kommunismus und Faschismus zwei Seiten einer Medaille. Es
geht letzten Endes um Entlastung: Je übler die Bolschewiki erschienen, desto besser sehen die Nazis im Rückblick aus. Wenn Kommunismus und Faschismus gleich böse sind, haben auch Papa und Opa nicht
das Böse bekämpft?
Antifaschismus war mit gutem Grund Staatsräson der DDR
Trotz einer kurzen Pause während des Historikerstreits herrschte in dieser Weltsicht in der BRD Konsens. Das
beeinflusst bis heute unsere Sicht auf die DDR und führt zur gängigen Meinung, die DDR habe sich nicht wirklich mit der Nazi-Zeit auseinandergesetzt. Doch was heißt hier wirklich? Der Vorwurf, dass
es dort bestenfalls einen verordneten Antifaschismus gab, ist kurios. War es etwa nicht richtig, einem faschismusdurchseuchten Land den Antifaschismus zu verordnen? Auch die Westalliierten taten
dies, bis der Kalte Krieg den Vorrang vor der Entnazifizierung bekam.
Antifaschismus war Staatsräson der DDR, mit gutem Grund: Als Herzstück des Nazi-Gedankenguts war der
Antikommunismus mindestens so zentral wie der Antisemitismus. Auch wenn der Staat den Antifaschismus instrumentalisierte, wurde die antifaschistische Grundhaltung selbst von DDR-Bürgern als
aufrichtig erlebt, die alles andere an diesem Staat kritisierten. Zahlen belegen, wie viele Altnazis vor Gericht gestellt oder verurteilt wurden, wie viele Altnazis in den Ämtern geblieben sind, wie
viele Denkmäler und Gedenkstätten errichtet wurden, wie viele Unterrichtsstunden über den Holocaust auf dem Lehrplan der Schulen standen. Der 8. Mai wurde in der DDR, schon 40 Jahre bevor Weizsäcker
seine Rede hielt, als Tag der Befreiung gefeiert. Nun lautet ein Vorwurf, die DDR habe ihren Bürgern den Eindruck vermittelt, immer auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden zu haben. Selbst
wenn es manchmal so gewesen ist, war wenigstens dort immer klar, welche Seite der Geschichte die richtige war.
Nichts provoziert den Widerstreit zwischen Ost und West wie der Vorwurf, die andere Seite führe das Schlimmste aus
dem Nazi-Erbe ununterbrochen fort. Wenn ich darauf bestehe, dass der Antifaschismus der DDR ein aufrichtiger Versuch war, die Nazi-Zeit aufzuarbeiten, will ich nicht behaupten, dieser Weg sei
makellos gewesen. Lieber sollten wir die Mängel vergleichen: Während die Aufarbeitung im Osten von oben kam, musste im Westen im Nachgang von unten gemacht werden, was von oben fehlte. Doch wenn der
östliche und der westliche Teil Deutschlands heute anerkennen könnten, dass jede Seite (unterschiedliche) Fortschritte gemacht hat, diese Kontinuität zu durchbrechen, während sie diese (auch auf
unterschiedliche Weise) aufrechterhielt, wäre eine geistige Wiedervereinigung endlich möglich.
Dass die Gleichsetzung von links und rechts nicht nur von historischem Belang ist, wurde bei der Landtagswahl in
Thüringen deutlich. Sie wird umso bedeutungsvoller, als die rechtsradikalen Terroranschläge Deutschland nun zu einer bitteren Form der heutigen Normalität verhelfen. Auch wenn die Zahl der Ermordeten
(noch) nicht diejenige von Norwegen, Neuseeland oder den USA erreicht, haben die Morde in Kassel, Halle und Hanau vieles mit diesen anderen gemeinsam: vor allem ideologisch. Von linken Morden gibt es
in den letzten Jahrzehnten auch international keine Spur, während die Zahl von ermordeten people of color durch rassistische Rechtsradikale weiter steigt. Angesichts dessen ist es längst an der Zeit,
mit dem Gerede von Rechts- und Linkspopulismus aufzuhören und die wirklichen Gefahren beim Namen zu nennen: Von Vergangenheitsaufarbeitung könnte sonst kaum die Rede sein.
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Nationalsozialismus
In der DDR wurde die NS-Zeit verdrängt
Die Erinnerungskultur in Ost- und Westdeutschland ist sehr unterschiedlich. Die DDR war kein
antinazistischer Staat. Eine Replik auf Susan Neiman
Ein Kommentar von Micha Brumlik in der ZEIT 11/2020
Dieser Artikel ist eine Replik auf Susan Neimans Beitrag über die Erinnerungskultur der Deutschen.
Als in Westdeutschland aufgewachsener Jude, der als junger Mann das Land verlassen hat, um nach zwei Jahren in
Israel (reumütig?) zurückzukehren, kann ich Susan Neiman weitgehend zustimmen, muss ihr aber in einem Punkt deutlich widersprechen: ihrer Hochschätzung der DDR als einer antifaschistischen, einer
antinationalsozialistischen Gesellschaft. Nein – die DDR hat noch stärker verdrängt als die Bundesrepublik.
Während in der Bundesrepublik die sogenannte "Aufarbeitung" – von "Bewältigung" lässt sich in keiner Hinsicht
sprechen – schleppend, aber immerhin doch seit dem von Fritz Bauer 1963 eingeleiteten ersten Frankfurter Auschwitzprozess in Gang kam, um schließlich im Protest der Studenten 1968 gegen ehemalige
nationalsozialistische Hochschullehrer einen ersten Höhepunkt zu erreichen, ließ die damalige Führung der DDR zwar in ihren Anfängen einige ehemalige Nationalsozialisten anklagen, verurteilen und
erschießen. Sie beteiligte sich sogar – namens siebzehn in der DDR wohnender Überlebender – mit dem Rechtsanwalt Kaul als Nebenkläger am Frankfurter Auschwitzprozess, um gleichwohl beinahe alle
ehemaligen NSDAP-Mitglieder in Partei, Staatsdienst und Wirtschaft zu integrieren – und das nach dem Motto: "Die Partei vergibt, aber sie vergisst nicht."
Damit wurden alle ehemaligen Nationalsozialisten zu erpressbaren und umso leichter kontrollierbaren, willfährigen
Funktionsträgern. Und dennoch – oder ebendeshalb – existierte in der DDR eine von der Geschichtswissenschaft nach wie vor nicht ernst genommene antisemitische Szene, die von der Staatssicherheit
teils argwöhnisch beobachtet, teils geheimdienstlich genutzt wurde.
Das belegt penibel die noch immer skandalöserweise viel zu wenig wahrgenommene Studie des Berliner Historikers
Harry Waibel, die 2017 unter dem Titel Die braune Saat. Antisemitismus und Neonazismus in der DDR erschien. Waibel, der sich vor allem aus 2000 als "streng geheim" klassifizierten
Quellenmaterialien – nicht zuletzt des Ministeriums für Staatssicherheit – informiert hat, konnte daher schon zu Beginn seiner Studie mitteilen: "Die Anzahl neonazistischer Vorfälle liegt bei etwa
7000, und etwa 725 Vorfälle betreffen Rassismus, und 900 Straftaten sind antisemitischer Natur, wovon etwa 145 die Schändungen jüdischer Friedhöfe und Gräber betreffen. Bei über 200 gewalttätigen
Angriffen wurden durch Pogrome und pogromartige Angriffe tausende Personen aus über 30 Ländern verletzt, und mindestens 10 Personen wurden zum Teil in Lynchjustiz getötet. [...] Die Angriffe wurden
in den allermeisten Fällen von jüngeren Männern durchgeführt und fanden in über 400 Städten und Gemeinden der DDR statt."
Auch ein Blick in die Schulgeschichtsbücher der DDR lässt wenig Zweifel offen, dass Antisemitismus und Schoah dort
kaum angemessen behandelt wurden.
Wer davon immer noch nicht überzeugt ist, lese nur das 2019 erschienene Buch der ehemaligen
DDR-Weltklassesprinterin Ines Geipel Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass. Dort ist zu lesen: "Der Osten [...] blendete in Wissenschaft, Bildung und Öffentlichkeit die
Verfolgung und Ermordung von sechs Millionen Juden weitgehend aus, ja zog sie nicht einmal ernsthaft in Betracht."
Dem ist – nach den Erfolgen der AfD im Osten, nach Halle und Erfurt – nichts hinzuzufügen.
Stolpersteine |
dem oben gesagten ist aus der jeweiligen sicht kaum etwas hinzuzufügen. aber auch unbedingt die kontroverse zur
erinnerungskultur in der ddr muss wohl so, wie sie der jude micha brumlik kurz & knapp formuliert hat, so unter der lobeshymne der amerikanischen jüdin susan neiman stehen, deren lobesduktus
gerade auch im vergleich mit den nationalen gedenk-aufarbeitungen in den usa und anderswo zwar verständlich ist, aber doch zurechtgerückt werden muss. es gibt noch keinen grund, uns die absolution zu
erteilen.
in der aufarbeitung der ns-"euthanasie"-verbrechen zum beispiel hat man jetzt zwar inzwischen einen groben
"globalen" überblick erarbeitet: welche vernichtungsphasen, welche deportationstransporte von wo nach wo - welche tötungsarten - aber die details und die verwirrspiele der mörder zur vertuschung
während ihres tuns aber auch noch danach sind noch nicht restlos aufgearbeitet. die holocaust- und euthanasie-morde waren so industriell kleinteilig organisiert und ausgeführt und brauchten ein so
diffiziles fachliches "know-how", dass jede gewalttat von vielen "tätern" und mitwissern und den weisungen der jeweiligen fach-experten begangen wurde.
die allerschlimmsten nazitäter sind zwar schon in den 50-er jahren in ost und west abgeurteilt worden - aber dann
ging es auch schon ans endgültige vergessen und abspalten, was heute noch vorherrscht oder aber jetzt, nach dem verschwinden der zeitzeugen, erst recht einsetzt. denn die "kleinen" und "kleineren"
leb(t)en ja zum teil noch mitten unter uns und genossen ihren lebensabend mit voller rente, oder waren wieder zu rang und (neuen) namen gekommen, waren in die "richtigen" parteien eingetreten oder
z.b. aber in den örtlichen schützen- oder karnevalsverein, bauten sich ihr klein-häuschen und hätschelten ihre familien oder zogen ihre kinder mit "starker hand" groß - je nachdem ...
da kann man auch heute nicht mehr "nachkarten", diese unterlassungssünden muss sich aber dieser staat und seine
bewohner mit in die annalen schreiben - und daraus lernen. die nsu-morde aber z.b. zeigen zunächst wieder genau die alten reflexe: "vertuschen" aller umstände, akten dazu 120 jahre einmotten - das
ist die deutsche wirklichkeit... - in 80 jahren kaum etwas dazugelernt...
und was nutzen dann am 27.01. jeweils der festakt im bundestag mit den erschütterndsten zeitzeugenberichten oder
die ritualisierten kranzniederlegungen oder vorträge der historiker an den gedenkstätten.
man hat die historische chance vertan, als nachkriegs-gesellschaft auch innerhalb der familien und ortschaften
und regionen mal "reinen tisch" zu machen, stattdessen schwieg man sich aus, ließ die akribisch geführten akten in den archiven, soweit noch vorhanden, einfach vergammeln und z.t. verschimmeln, wie
z.b. die rund 30.000 krankenakten von in der ersten, sogenannten "t4"-phase ermordeten opfer des systematischen patienten-massenmordes (ns-euthanasie), die 1990 im ehemaligen “ns-archiv” in einem
unfrequentierten nebenraum des ministeriums für staatssicherheit der ddr gefunden wurden, wo sie wohl für anstehende denunziations- und erpressungszwecke abgelegt wurden.
und auch diese akten wurden dann nach ihrem auffinden 1990 nicht etwa unverzüglich der öffentlichkeit zu
nachforschungen vielleicht auch noch zu den jeweils verantwortlichen und tätern zugänglich gemacht. nein - ausgerechnet eine israelische organisation iaapa stellte 2003 zunächst die klarnamen zu
diesen 30.000 opfern nach rechtsprechung der bundesrepublik "illegal" ins internet, denn man monierte in falscher deutscher gründlichkeit datenschutz- und archivrechte. und erst seit august 2018
(also 28 jahre nach dem auffinden) kann man diese namen "offiziell" auch beim bundesarchiv online recherchieren, nachdem wohl auch noch die letzten damit im zusammenhang stehenden mitwisser und
helfershelfer, also z.b. ärzte, nsv-schwestern, deportationsverantwortliche, verwaltungsbeamte usw. endlich verstorben sind.
susan neiman geht auf dieses immer noch anhaltende "vergessen" und "beschweigen" kaum ein, die zu einer
ungeschönten beschreibung der deutschen vergangenheits-aufarbeitung dazugehören müsste.
und mit den noch so monumentalen gedenkstätten oder auch den kleinen inzwischen über 70.000 stolpersteinen mit
den namen jeden opfers ist es noch immer nicht getan, solange es moralische "pflicht-rituale" bleiben. denn durch die aufgesetzten trauerblicke und die tragende musik von arvo pärt ändert sich das
notwendige tatsächliche erfassen und be-greifen kaum - auch nicht in der eigenen familiären hemisphäre - damit entsteht noch keine innere "läuterung" der gesellschaft insgesamt.
all die schandtaten von urgroßeltern oder großeltern waren keine "dazugehörenden kavaliersdelikte", das waren
vollendete rassistisch konnotierte morde & totschlagsdelikte oder folterungen und das war lynchjustiz - und dazu waren diese menschen mit ein paar simplen tricks der propagandistischen verführung
und der massenhysterie fähig: millionen haben dabei mitgemacht - und nur eine kleine handvoll hat dagegen aufbegehrt.
es bleibt noch viel zu tun.
Die Aufarbeitung aufarbeiten
Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie fordert: Wir müssen die blinden Flecken beider
deutschen Staaten ausleuchten - für eine Ächtung und Bekämpfung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit heute
Ist es nicht endlich genug mit der Vergangenheitsbewältigung, was können wir dafür, wenn unsere Groß- und Urgroßeltern im sogenannten Dritten Reich Mist gebaut haben? So fordern bisweilen jüngere
Menschen einen Schlussstrich unter der NS-Vergangenheit. Die listige Reaktion des Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger auf frühere Einlassungen, nun sei es aber genug mit Hitler und Holocaust,
war einmal: Man müsse sich auch um die Reparatur der Kanalisation kümmern, wenn die Urgroßväter sie gebaut und womöglich vermasselt haben. Die zeitgemäße Analogie sind die Brücken, die autoverrückte
Babyboomer zuschanden gefahren haben und eine Generation in Stand setzen muss, die womöglich gar nicht mehr Autofahren will (oder darf). Manche Verantwortungen lassen sich nicht einfach abweisen;
auch wenn die Generation der Schuldigen nun endgültig abtritt.
stolpersteine sind eine "gesamtdeutsche" gedenk- und
kunstform - der erste stein wurde 1992 vom künstler
gunter demnig im köln gelegt - inzwischen gbt es über 75.000
gedenksteine in ganz europa.
|
Heute geht es nicht mehr um Schuld. Aufgearbeitet werden muss heute vielmehr die Art und Weise, wie NS-Verbrechen in zwei konträren politischen Systemen bearbeitet worden sind, die heute noch
kulturell gespalten wirken: eine „Aufarbeitung der Aufarbeitung“ gewissermaßen. Nicht beiläufig verlangen gerade im Westen Deutschlands sozialisierte Politiker von rechts außen wie Alexander Gauland
und Björn Höcke (beide AfD) eine 180-Grad-Wende und erklären die Thematisierung des Holocaust zur nationalen Schande. Sie spekulieren auf Resonanz vor allem im Osten des Landes und verdienen genau
den Widerspruch, den CSU-Chef Franz Josef Strauß 1969 zu spüren bekam, als er „Schluss mit ewiger Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftlicher Dauerbüßeraufgabe“ verlangte.
Wie und warum kam es zu den „zwei Erinnerungskulturen“ in Deutschland? Blicken wir zurück auf die „Stunde null“: 1945 lag das Deutsche Reich materiell und moralisch am Boden, Stacheldraht und Mauer
spalteten es in zwei verfeindete Lager. Im Kalten Krieg war die Vorgeschichte, darunter der Holocaust, gewissermaßen eingefroren. Erst in den 1980er Jahren trat er wieder ins allgemeine Bewusstsein.
Bis dahin fühlte man sich weder im Westen noch im Osten subjektiv befreit; die objektive Einordnung des 8. Mai 1945 durch den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker löste 1985 noch
Empörung aus. Im Westen redete man lieber vom „Zusammenbruch“, im Osten sprach der Begriff „Befreiung“ dem Wirken der sowjetischen Besatzer Hohn. Beide Seiten scheuten lange die Aufarbeitung der
Vergangenheit. Die Bombardements, vielen Gefallenen und Kriegsversehrten, drückende Reparationen, die nicht ganz so drückende Entnazifizierung, der Nürnberger Prozess gegen die Hauptschuldigen - das
schien doch genug der Buße zu sein.
Deutschlandweit war die Verdrängung eine fast natürliche Reaktion; „kommunikatives Beschweigen“ bezeichnete 1983 der Philosoph Hermann Lübbe diese alltägliche Haltung, wonach man um die Schuldigen
wusste, aber nicht offen über ihre Taten sprechen wollte. Lübbe meinte, dieser Akt politischer Hygiene sei der Bundesrepublik unterm Strich gut bekommen, die nächste Generation fand das nicht und
forderte dagegen die radikale Selbstaufklärung über die personelle, institutionelle und mentalitätsmäßige Kontinuität über die Stunde null hinaus.
Die gar keine war, auch in der DDR nicht. Dort waren NS-Täter ebenso stillschweigend übernommen worden und war „der Schoß fruchtbar noch, aus dem das kroch“, wie Bertolt Brecht wohl nicht nur
im Blick auf das „Bonner Regime“ dichtete. Er konnte in Berlin beobachten, wie in Ostdeutschland - das ist der wichtigste Unterschied - eine Diktatur in eine andere überging, während Westdeutschland
nicht nur das sogenannte „Wirtschaftswunder“, sondern auch eine verordnete, dann aber mehr und mehr verinnerlichte Demokratisierung von Politik und Gesellschaft zugutekam. In SBZ (Sowjetische
Besatzungszone) und DDR wurde erneut politische Justiz geübt, die Opposition unterdrückt, die künstlerische Freiheit beschnitten, es wurde weiter bespitzelt und denunziert. Die rote Diktatur
unterschied sich von der braunen, sie war aber auch eine. Die teilweise Virulenz autoritärer, völkisch-nationalistischer Einstellungen in den neuen Ländern belegt, wie autoritäre Persönlichkeiten und
Verhältnisse politische und individuelle Freiheiten über Jahrzehnte, oft bereits vom Kaiserreich an bis in die 1990er Jahre durchgängig einschränkten. Eine ernsthafte Aufarbeitung der Vergangenheit
erfordert einen demokratischen Rahmen und eine freie Zivilgesellschaft. Was nicht bedeuten soll, autoritäre Einstellungen hätten im Westen des Landes keinen Bestand gehabt, wo ebenfalls erneut
Judenhass und Fremdenfeindlichkeit zutage treten, die überwunden galten.
Die DDR kann sich zugutehalten, in der justiziellen Aufarbeitung strenger, in der Staatsbürgerkunde entschiedener und mit der Errichtung von Gedenkstätten früher am Start gewesen zu sein. Dem
widersprachen aber die Form wie die Zielrichtung der Aufarbeitung, die vor allem gegen die „Globkes“ gerichtet war; so hieß Adenauers rechte Hand, ein Mitverfasser der NS-Rassegesetze. Sie verlief
Top-down und war dem Kulturkampf und Systemwettbewerb untergeordnet. Die nach allseitiger Verdrängung entzündete Debatte in einer freien Presse, im öffentlichen Raum, an Schulen und Universitäten und
in den Gedenkstätten war in der DDR systembedingt blockiert; Ausnahmen wie Jurek Beckers Roman „Jakob der Lügner“ und einige DEFA-Filme bestätigen nur die Regel. Mögen manche 68er im Westen ihren
Furor gegen die NS-Generation übertrieben haben, dieser Aufstand fehlte im Osten Deutschlands.
So stand der Systemkonflikt einer ehrlichen Aufarbeitung im Wege. Die SED hatte es besonders geschickt anlegen wollen: Sie erklärte die BRD zum einzigen Nachfolgestaat des NS-Regimes, entzog sich
damit selbst der kollektiven Verantwortung und erhob den Antifaschismus zur Staatsdoktrin. Selbst die Mauer und die Teilnahme der Nationalen Volksarmee, der NVA, an der Intervention in der CSSR 1968
wurden als Schutz gegen den Faschismus gerechtfertigt. Die frühe SED, der auch aufrechte Widerstandskämpfer gegen Hitler angehörten, wurde ihrerseits dominiert von Stalinisten, die die sozialistische
Idee verrieten und eine andere Spielart des Totalitarismus exekutierten; dabei stellten sie unter dem Deckmantel des Antizionismus in den 1950er Jahren auch Juden nach.
So blieb die in der DDR geübte „Aufarbeitung der Vergangenheit“ vielfach ein hohles, oft verlogenes Ritual, das vor allem die Bonner Republik ob ihres NS-Personals in Verlegenheit bringen sollte.
Damit hatte sich die DDR kollektiv ent-schuldigt und geradezu an die Seite der sowjetischen Siegermacht geschmuggelt. Die im Übrigen eine abwegige und veraltete Faschismus-Theorie geliefert hatte:
Den Dimitroff-Thesen der Komintern von 1935 zufolge war der „Faschismus die höchste Stufe des Kapitalismus“, und so saß vor allem letzterer auf der Anklagebank. „Die Hitler kommen und gehen, das
deutsche Volk aber bleibt bestehen“, lautete ein Bonmot Stalins, das die schwer in dem Nationalsozialismus verstrickte Mehrheit der Deutschen kollektiv entlastete. Und weil damit der rassistische
Kern des Völkermords im Dunkeln blieb, wurde offiziell vor allem kommunistischer Widerständler und sowjetischer Soldaten und Zwangsarbeiter gedacht, nicht der Millionen ermordeter und vertriebener
Juden, die zudem kaum entschädigt wurden. Auch Sinti und Roma, Homosexuelle, „Asoziale“ und Opfer anderer Minderheiten wurden kaum in den Blick genommen. Solche ideologischen Blüten richteten sich
gegen die politische Kultur des Westens und „Amerika“. Dieser politisch-kulturelle Antiamerikanismus verdeckte kaum die Kontinuität nationalistischen Denkens; die immer noch virulente Opfer-Legende
Dresdens, von „angloamerikanischen Bombern“ zerstört worden zu sein, ist in der DDR gewachsen. Die Folge: Bis in die 1980er Jahre hinein wurden rassistische und antisemitische Neigungen, etwa bei
rechtsradikalen Skinheads, als „Rowdytum“ verharmlost. Da wird ein verzerrtes Geschichtsbild zum echten Zukunftsproblem ganz Deutschlands.
Ein letztes Defizit muss benannt werden, das auch die westdeutsche Linke trifft: Eine ähnlich kritische Aufarbeitung des Stalinismus und des autoritären „Realsozialismus“ unterblieb vor 1989 und ist
auch nach der „Wende“ nicht intensiv betrieben worden. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur genießt allgemein weit weniger Aufmerksamkeit als die NS-Diktatur. Darin manifestiert sich ein
Ost-West-Gefälle der Geschichtspolitik, und es bleibt wohl einer wirklich gesamteuropäischen Erinnerungskultur überlassen, die mit „Holocaust“ und „GULag“ markierten Totalitarismen zu
durchleuchten, darunter den für Ostmitteleuropa desaströsen Hitler-Stalin-Pakt von 1939, ohne dabei in wechselseitiger Relativierung und Gleichsetzung, Opferkonkurrenz und Aufrechnung zu
verharren. Im KZ Buchenwald manifestiert sich die Überschneidung darin, dass nach deren Befreiung dort Gegner der Sowjets und der SED interniert wurden.
Das Wissen um den Holocaust nimmt Umfragen zufolge unter Jugendlichen heute eher ab als zu, während antisemitische Einstellungen auch in dieser Altersgruppe manifester werden. Zeitgemäß aufbereitet,
könnte das Gedenken an den 27. Januar 1945 helfen, die Angriffe von rechts außen besser zu kontern. Dazu muss man die blinden Flecken beider Staaten ausleuchten und angemessene Schlüsse ziehen für
die Ächtung und Bekämpfung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit heute. Denn in China zieht ein neuer Totalitarismus auf, der Minderheiten einsperrt und Opposition mundtot macht.
aus: DER TAGESSPIEGEL Nr. 24 075, SONNTAG 26. Januar 2020, Beilage "NIE WIEDER", S. B6
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irgendwie erinnern mich die aussagen dieser zeilen von claus leggewie an ein "patt" im schach. da hat nämlich
die eine seite geschwiegen und versäumt - und auch die andere seite aus anderen oft genuinen voraussetzungen nach der stunde "null" und aus irgendwelchen verdrängungsgründen heraus ebenfalls
verheimlicht, umkonstruiert und einschlägige akten einbalsamiert und weggeschlossen.
den 68ern im westen immerhin billigt leggewie zwar eine vielleicht etwas übertrieben lautstarke
auseinandersetzung mit der eltern- und großelterngeneration zu - aber er konstatiert auch auf der anderen seite im osten eben das gänzliche fehlen einer ähnlich aktiven oppositionsbewegung "von
unten" und im wahrsten sinne des wortes "auseinander-setzen" in den familien, außerhalb des establishments, mit viel emsiger archiv-recherche und erstveröffentlichungen von erkenntnissen zu
den ns-gräueltaten - erst nach einer überlangen schockstarre ab den späten 70er/frühen 80er jahren - zunächst in kleinen alternativ-verlagen und von nur einer handvoll interessierter autoren, die
sich zum teil damit ihre ersten seminararbeiten für das studium zusammentippten - ehe dann der main-stream der großen verlage eine allmähliche nachfrage zu diesem geschehen ausmachte und auf diesen
zug endlich mit aufsprang - und die inzwischen darauf anspringenden historiker ab den 90er jahren daraufhin ein regelrechtes spezialgebiet um "holocaust" und ns-"euthanasie" eingrenzten.
allerdings hat diese "freie marktwirtschaft" im west-literaturbetrieb unter den autoren und
interessengemeinschaften in den veröffentlichungen auch rasch zu ab- und ausgrenzungen geführt - und zu debatten bis hin zu kleinen oft unfairen scharmützeln in den feuilletons und historischen
verlagen, wo autoren sich gegenseitig ihre (un)aufrichtigkeit und (un)genauigkeit aufrechneten und sich gegenseitig recherchefehler vorwarfen - und es wurden auch forschungsmäßige hierarchien
gebildet zu den jeweiligen opfergruppen: es wurden oft abstufungen vorgenommen zwischen "politischen" kz-opfern, opfern jüdischen glaubens, den ermordeten der "euthanasie", den homosexuellen, den
sinti und roma, den zwangsarbeitern usw.
aber vielleicht hing diese gruppen- und kategorienabbildung in der "aufrechnung" mit der "ent- und aufdeckung"
einzelner vernichtungsstätten und -abteilungen zusammen - auch an der unvorstellbaren menge von fast 7 mio. ermordeter menschen, jeweils durch industriell organisierte und letztlich abgestuft
kleinteilig tötende teams und täterketten, die sich dazu - zum töten - den staffelstab in form der giftspritze, des gaswagens oder der erschießung weiterreichten und im laufe des unterfangens immer
mehr skrupel davor verloren und sich einreihten.
da hatten dann chemische und pharmazeutische großbetriebe und konzerne oder kliniken und auch die großen
überregionalen sozialeinrichtungen schon ein interesse daran, dass eine damalig einschlägige
"historie" in ihrem sinne faltenfrei und glatt fortgeschrieben wurde nach der "stunde null". sie hatten sich oftmals mehr oder weniger an der massenhersherstellung etwa der vergasungsgifte und
der tödlichen medikamente mitbeteiligt und damit geld verdient, bzw. hatten die sozialeinrichtungen sich direkt oder indirekt sogar an der tötung selbst mitbeteiligt - und nötigenfalls ließ man sich
dann auf ein kritisches historien-gutachten eben auch mal ein "gegengutachten" von einer bezahlten koryphäe erstellen und ließ dann die gerichte entscheiden, was die "wahrheit" ist.
beide teile deutschlands - auch in den familien und damit eben das "volk" - hatte also jeweils ihre
aufarbeitungs- und abspaltungsprobleme damit, wie es weitergehen oder wie gekonnt verschwiegen werden konnte - und wie eine aufarbeitung von wem, wann und in welchem
umfang vonstatten gehen sollte ...
und wolf biermann, der liedermacher aus dem osten, singt ja die zeilen:
"das kann doch nich alles gewesn sein
da muss doch noch irgend was kommen! nein
da muss doch noch leebn ins leebn
eebn" ...
und franz-josef degenhardt stimmt da ein mit:
"ärmel aufkrempeln, zupacken, aufbauen"...
und diese aufgabe bleibt: im osten wie im westen ... - jeder nach seiner facon und seiner
"ge-schichte".
Die Erinnerungskultur erneuern
Der Historiker Martin Sabrow fordert: Jetzt muss Nüchternheit Emphase ersetzen. Die Gesellschaft soll der
Versuchung widerstehen, den Wertehimmel unserer Zeit auf die Vergangenheit zu projizieren
Die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist in unserer Generation zu einem
hohen Gut der nationalen Selbstverständigung geworden. Theodor Adornos Forderung an eine gelingende Aufarbeitung 1959, „dass man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles
Bewusstsein“, kann in der Gegenwart für erfüllt angesehen werden.
Heute gilt ein parteiübergreifender Konsens des liberaldemokratischen Spektrums, dass
die fortdauernde Auseinandersetzung mit der historischen Schuld zweier Diktaturen einen Grundpfeiler des bundesdeutschen Selbstverständnisses bilde.
Die seit den 1980er Jahren entstandenen Geschichtsmuseen in der Bundesrepublik blenden die furchtbare Vergangenheit
nicht aus, sondern beziehen sie ein. Die bei Adorno noch vor allem gegen den Staat und das staatlich verantwortete Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie gerichtete Bewältigungsforderung
hat sich zum Handlungsziel für den Staat entwickelt. Adornos bittere Erfahrung, „im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick reden; sonst hat man Ressentiment“, hat nicht nur an Gültigkeit
verloren, sie ist in ihr Gegenteil umgeschlagen, wenn der damalige Bundespräsident Joachim Gauck zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz feststellte: „Es gibt keine deutsche Identität ohne
Auschwitz.“
Auch die Auseinandersetzung mit der zweiten deutschen Diktatur des 20. Jahrhunderts vollzieht sich nicht im
Schatten der deutschen Geschichtskultur, sondern unter immer weiter steigender medialer und geschichtspolitischer Aufmerksamkeit. Dies lässt sich eindrucksvoll an der Erinnerungskonkurrenz des 9.
Novembers ablesen, der in den vergangenen 30 Jahren zum heimlichen deutschen Nationalfeiertag der deutschen Gesellschaft aufgestiegen ist. Alles gut also?
Nein, nichts ist gut, wie in jüngerer Zeit wieder so schmerzhaft zu erfahren war. Fast hilflos steht die
Mehrheitsgesellschaft vor den Konsensverletzungen, die die Karriere des Rechtspopulismus als Massenphänomen auf der Straße und als politische Kraft in den deutschen und europäischen Parlamenten mit
sich gebracht haben.
Der Raum des Sag- und Denkbaren und die Orientierungsmarken der gesellschaftlichen Debatte haben sich nicht nur in
dramatischer Weise nach rechts geöffnet und die Schleusen eines längst überwunden geglaubten Vergangenheitsdiskurses geöffnet, sie hat auch all diejenigen in die Defensive gedrängt, die sich immer
wieder über neurechte Tabubrüche empören und selbst damit noch einem identitären und geschichtsrevisionistischen Denkstil in die Hände spielen, dessen ganzes Programm die bloße Provokation
ist.
Wenn jeder vierte Wähler in einem Land, in dem die NSDAP 1930 ihre erste Regierungsbeteiligung erreichte, bei den
jüngsten Landtagwahlen in Thüringen seine Stimme einer Partei gab, deren dezidiert rechtsextrem auftretender Spitzenkandidat ungeniert mit seiner politischen Nähe zum Nationalsozialismus kokettiert,
dann wird die Frage unvermeidlich, was die Geschichtskultur wert ist, auf deren Geltungskraft wir uns so gern berufen.
Um sie zu beantworten, tut die Erkenntnis not, dass die kritische und selbstkritische Vergangenheitsaufarbeitung
nicht allein von außen in Frage gestellt wird, sondern auch in eine innere Krise geraten ist. Vier Herausforderungen stechen dabei hervor.
Es macht einen Unterschied, ob Erinnerung mittelbar oder unmittelbar tradiert wird, ob sie von Menschen überliefert wird oder allein in Texten und Bildern.
Aufarbeitung verspricht permanent eine Versöhnung, die sie nicht einlösen kann, weil sie das Schuldbekenntnis nicht mit Vergessen vergelten kann.
Das Projekt der historischen Aufklärungist zur Routine einer historischen Selbstbestätigung geworden, die aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht mehr unbequeme und womöglich unwillkommene Erkenntnisse zieht, sondern vertraute Bilder immer wieder reproduziert und ritualisiert.
Auch in Deutschland verwandelt sich kritische Distanz in vereinnahmenden Repräsentationsanspruch
...keine Rückkehr zum Vergessen
und Verdrängen,
wohl aber einen Übergang
zu einer Form der Auseinandersetzung
mit historischem Unrecht
und historischer Fehlentwicklung,
die aufklärerische Emphase gegen
historiografische Nüchternheit eintauscht.
Unser Umgang mit der Vergangenheit ist im Wandel begriffen. Die
Erinnerungskultur, wie wir sie kennen, war in starkem Maße ein Generationsprojekt. Sie hat einen beispiellosen Siegeszug erlebt, aber sie ist mittlerweile von der Offensive in die Defensive
gerutscht. Die geglaubte Sicherheit, dass die deutsche Gesellschaft aus ihrer unheilvollen Vergangenheit gelernt habe, ist einer neuen Ungewissheit gewichen. Der Abschied von der Aufarbeitung
als Epoche bedeutet keine Rückkehr zum Vergessen und Verdrängen, wohl aber einen Übergang zu einer Form der Auseinandersetzung mit historischem Unrecht und historischer Fehlentwicklung, die
aufklärerische Emphase gegen historiografische Nüchternheit eintauscht. Die Geschichtsschreibung in der Zeit nach der Aufarbeitung muss sich gegen geschichtsrevisionistische Umdeutungen zur
Wehr setzen, und sie muss zugleich ihre Stimme gegen die Versuchung erheben, den Wertehimmel unserer Zeit auf die Vergangenheit zu projizieren.
Und sie muss den eigentümlichen Schulterschluss von Gedenkpolitik, Geschichtskultur und Fachwissenschaft neu
reflektieren, der der Berliner Republik so selbstverständlich scheint. Wenn sie es aber tut, kann die Arbeit an der Geschichte darauf vertrauen, dass die drängenden Herausforderungen der heutigen
Erinnerungskultur nicht nur eine Krise bedeuten, sondern auch eine Chance.
erinnern - durch und durch
Kriege und ihre Folgen werden im TAMdrei im interkulturellen
Stück durch die Intensität der Darstellung sehr präsent. Foto: Tim Ilskens/Theater - NW u. WB |
Das Recht auf Erinnerung
Parallele Welten im TAM-drei: Heldentaten oder Verbrechen?
Von Burgit Hörttrich | WB
Wieso hatte der Großvater keine Freude daran, mit den Enkeln zu spielen? „Das kommt vom Krieg“, sagt die
Großmutter. Ist der Onkel ein Held, weil sein Name irgendwo in einem Dorf im Kosovo auf einem Kriegerdenkmal steht? Die Großmutter erzählt von den Haustieren und von selbst gestrickten Socken, wenn
es um die Vertreibung aus der Heimat geht. Oder sie erzählen gar nichts vom Krieg, die Verwandten.
Gibt es ein Recht darauf, zu erfahren, was Eltern, Großeltern, Onkel, Cousins im Krieg erlebt haben? Dieser Frage sind 16 Bielefelder zwischen 17 und 56 Jahren mit kurdischen, türkischen,
kosovarischen, deutschen, serbischen, bosniakischen, ägyptischen, italienischen, syrischen und russischen Wurzeln seit mehr als einem Jahr nachgegangen. Gemeinsam mit Schauspieler Omar El-Saeidi und
Theaterpädagogin Martina Breinlinger haben sie daraus ein Stück gemacht. „Krieg.Erinnern“ wurde bei der Premiere im TAM-drei gefeiert – nach minutenlangem, betroffenem Schweigen.
Familienfotos von „früher“, angefangen vom Ersten Weltkrieg, aber auch Alltagsszenen aus vermeintlich glücklichen Zeiten, sind Anknüpfungspunkte für Fragen, um Geschichten zu erzählen, Erinnerungen
auszutauschen. Durchaus lustige Geschichten, aber auch solche Fragmente, bei denen der Erzähler mitunter nicht so recht weiß, ob er das, was er da erzählt, selbst erlebt hat, gehört hat, es seiner
Fantasie entspringt. Buchstäblich laufend, suchen die Protagonisten nach Wahrheit. Oder doch nach Antworten. Denn die, die sie mitunter bekommen, passen nicht so recht ins Weltbild.
Berichtet wird auch von Kriegen, die in der Allgemeinheit längst in Vergessenheit geraten sind, bei den Betroffenen aber tiefe Narben hinterlassen haben. Die einen wollen reden, jedes Detail
ausbreiten, die anderen am liebsten vergessen, nicht „darüber“ sprechen. Darüber zum Beispiel, dass der Großvater im Konzentrationslager gearbeitet hat, darüber, dass man ja nichts gewusst hat. Es
gibt Geschichten von Versöhnung. Oder zumindest Versöhnungsversuchen.
Da ist die Sorge, dass die erlebte Erinnerung mit Tätern und Opfern stirbt, dass nur noch Bücher und Fotos, Erzählungen aus dritter, vierter Hand zurück bleiben. Das seien dann „Momentaufnahmen, die
kalt werden“. Die Stück-Collage schildert bewegend emotionale Berg- und Talfahrten, wenn Angehörige befragt werden, die Skrupel, die eigenen Verwandten zu „verhören“ und auch die Angst davor, Dinge
zu erfahren, die man gar nicht wissen wollte, die nichts ins eigene Denkmuster passen.
Die Mitwirkenden Mohammad Alhammadi, Derya Bal, Edda Barteit, Luca Buxel, Marwan El Sayed, Merisa Ferati, Canip Gündogdu, Daniel Heinrih, Khani Hussein, Delia Kornelsen, Giacomo Monaca, Gaye Mutluay,
Ingo Nie, Demokrat Ramadani, Baris Solmaz und Ayhan Turan spielten mit großen Engagement. Sie waren sie selbst und auch wieder andere, deren Schicksale ihnen sichtbar nahe ging.
Die Projektreihe Parallele Welten mit Laien und Künstlern des Theaters gibt es bereits seit 2012 - und erzeugt große Aufmerksamkeit. So wurde 2015 das Stück „Ehrlos“ für das
Welt-Amateur-Theatertreffen in Monaco nominiert und zum Theatertreffen der Jugend eingeladen.
„Krieg.Erinnern“ ist zu sehen am 10., 12. und 13. Dezember im TAM-drei
WESTFALEN-BLATT | Montag, 9. Dezember 2019 | Seite 12: Bielefelder Kultur
Kriege und der Blick zurück
Wie ist das mit den Erinnerungen? Welche Rechte hat man an denen der vorherigen Generationen? Und wenn sie sich
erinnern, sind diese dann wahr? Oder sind sie nicht vielmehr immer subjektiv und selektiv?
Von Christiane Buuck | NW
„Krieg. Erinnern“ lautet der Titel des aktuelles Stücks in der Projektreihe „Parallele
Welten“ des Theaters Bielefeld. Ein Jahr lang haben die Mitspieler zwischen 17 und 62 Jahren unterschiedlichster Herkunft mit Menschen aus verschiedenen Ländern gearbeitet, deren Erinnerungen
aufgeschrieben und szenisch umgesetzt. Dabei ging es um die zentrale Frage, wie subjektiv und selektiv Erinnerungen sind. Können sie wirklich die Wahrheit abbilden?
Unter der Leitung von Theaterpädagogin Martina Breinlinger und Schauspieler Omar El-Saeidi hatten sich die Mitspieler mit kurdischen, türkischen, kosovarischen, serbischen, ägyptischen,
italienischen, syrischen, russischen und deutschen Wurzeln ein Jahr lang mit diesen Fragen auseinandergesetzt und sie szenisch umgesetzt.
Bei der Premiere am Samstag im TAMdrei hatte die Aufführung bereits begonnen, als die Zuschauer sich ihre Plätze suchen. Auf dem Boden sitzend schauen sich die Spieler alte Familienfotos an und
unterhalten sich darüber. Die Familien der Spieler sind größtenteils Opfer eines Krieges. Ein Teil ihres Lebens, an das sie bisher nicht erinnert werden wollten, wurde von ihren Kindern hinterfragt.
Kriege und deren Folgen werden durch die Schilderungen sehr präsent in dem kleinen Theaterraum, die Barriere zwischen Darstellern und Zuschauern verschwimmt. Diese Nähe wirkt so manches Mal –
insbesondere für die erste Reihe – fast beängstigend und bei der Bewegungs- und Gefühlsintensität, mit der die Darsteller präsent sind, berührt und entsetzt der Inhalt des Vorgetragenen das Publikum.
Das Erlebte, die Ängste und das Grauen der Kriege bekommen Gesichter. Die Zuschauer verfolgen Diskussionen um Fragen wie „Was bedeutet es, Pazifist zu sein?“, „Was ist wahr?“ und nicht zuletzt auch
die Frage nach der Schuld. In einer Clown-Maske setzt Canip Gündogdu dem entgegen: „Ich will nicht von Dingen sprechen, von denen ich keine Ahnung habe.“ Aber wie bildet man sich eine eigene Meinung,
da doch Gedanken und Gefühle von Kindheit an gelenkt werden – im Elternhaus oder auch von den Medien ?
Nach der Premiere sind alle erleichtert, Mohammad Alhammadi gibt zu, große Angst vor dem Auftritt gehabt zu haben, doch: „Ich will, dass die Kriege aufhören!“ Alle haben Mut bewiesen und Großartiges
geleistet an diesem Abend, gerade, weil sie auch ganz viel von sich selbst Preis gegeben haben. Die Zuschauer waren mehr als nachdenklich – dieses Stück, so grandios es auch ist, ist schwere Kost und
wirkt noch sehr lange nach.
NEUE WESTFÄLISCHE | Dienstag 10. Dezember 2019 | S. 19: Lokales Bielefeld
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genau die hier sich offenbarenden fragen und antworten und wirklichkeiten und behauptungen und auch das
eiserne beschweigen mancher zeugen, denen es die sprache verschlagen hat - das sind die themen einer zeitgemäßen erinnerungs- und gedenkkultur, so wie sie - vielleicht auch durch aktives rollenspiel
- einer jungen generation vermittelt werden können, wenn die zeitzeugen selbst allmählich die bühne verlassen.
damit lässt sich dann in szene setzen, was jetzt auch noch von den traumatisierten selbst oder eben auch von
kindern, enkeln und urenkeln und neffen und großnichten er-innert wird.
schon das wort er-innern - ist für mich jedenfalls die physische umkehrung des verinnerlichens -
also sousagen die "schluckauf"- und "aufstoß"-variante verinnerlichter geschehnisse, die selbst erlebt oder durch verbale und auch nonverbale überkommene erzählungen in uns herumschwirren - und die
sich "gehör" und "wahrnehmung" verschaffen wollen.
denn sie sind für alle menschen, egal welcher religiöser wurzeln, staatsangehörigkeit und hautfarbe und welchen
geschlechts, egal welchen alters oder welcher sexueller orientierung, profilierende und beeinflussende fakten, die ein "lebenslänglich" in irgendeiner weise prägen.
und damit das "herumschwirren" in uns, auf welcher art auch immer, nicht "überhand" nimmt und pathologische
nuancen ausbildet, sollten wir das, was nach außen drängt, auch nicht einfach quasi "unverdaut" wieder herunterschlucken, sondern "ausspucken" im weitesten sinne: wir sollten uns endlich mal "um kopf
& kragen reden", die "seele aus dem leib" reden, ja uns mal "auskotzen", sollten einfach losstammeln und das ausdrücken, was wir da vom uropa wissen, oder von der tante, oder was wir an
mitteilungshemmnissen an der eigenen mutter beobachten können oder konnten.
das sind die spuren, die in jedem von uns gelegt sind - und die uns - direkt und indirekt - berühren und
betreffen - von denen wir abhängig sind.
und solche "improvisations"-elemente auf den tatsächlichen "brettern, die die welt bedeuten", also im
profesionellen theater, sollten vielleicht auch in schul-kursen und laienspielgruppen unter dieser prämisse ergründet, erarbeitet, dargestellt - und so zum allgemeinen erhaltenswerten kulturgut
werden, da wo er-innerung "hautnah" gelebt und ausgelebt werden kann, damit sie tatsächlich verinnerlicht, integriert und zum gesunden bestandteil des ich wird.
es sind quasi stolpersteine, vor denen man nicht stutzt, um sie zu lesen - sondern innerlich gelegt, um genauso
innerlich und tatsächlich im miteinander drüber zu stolpern...
jugendvolxtheater bethel in dem stück "ich will leben", 2018 |
noch ein beispiel dazu siehst du auch hier...
"Judensonderzug Nr. 76"
Zeitgeschichte
Ein letzter Rest von Würde
Die DER Touristik Group hat die Geschichte des Unternehmens in der NS-Zeit untersuchen lassen – das
Ergebnis aber nicht veröffentlicht. Offenbar verdiente die Reisebürokette Millionen an der Deportation von Juden in die Konzentrationslager.
Holocaust-Überlebende Grinspan 2015 mit Fotos vor und nach der Deportation |
Am 10. Februar 1944 verließ ein mit 1500 Juden besetzter Güterzug den Pariser Vorortbahnhof Bobigny Richtung Auschwitz. Unter den Deportierten befand sich auch die 14-jährige Ida Fensterszab. Nach Kriegsende gehörte sie zu den wenigen Überlebenden. Unter ihrem ehelichen Namen Ida Grinspan berichtete sie später von der Reise im Güterwaggon:
Nur ein kleines Gitter ließ Tageslicht in den Wagen. Wir konnten auf dem mit etwas Stroh belegten Boden kaum sitzen, geschweige denn liegen. Dazu ein ständiger Krach, das Keuchen der
Lokomotive, Ruß aus dem Schornstein und das Wimmern der Reisenden. Für jeden Passagier nur einen Brotkanten. Und dann dieser Gestank! Die erste Erniedrigung, die wir ertragen
mussten, war, dass man sich vor den Augen aller entleeren musste. Die Erwachsenen hielten Mäntel um einen herum, dass wenigstens der letzte Rest von Würde gewahrt blieb. Der dafür
vorgesehene Behälter lief schnell über, der Inhalt verteilte sich auf dem Stroh. Der Geruch war unerträglich.
Nach der Ankunft in Auschwitz schickte man Ida Fensterszab nicht ins Gas, sondern zur Zwangsarbeit. Ein Foto zeigt sie mit geschorenen Haaren, verunstaltet und verängstigt, kurz
nach der Befreiung in Frankreich.
Gebucht hatte den Transport vom 10. Februar ein Unternehmen, dessen Name heute fast vergessen ist, das Mitteleuropäische Reisebüro (MER). In den Sterbebüchern von Auschwitz
finden sich Kopien der Korrespondenz zu diesem Zug. Die Pariser MER-Filiale hatte ihre Rechnungen noch am Tag der Abreise an den Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Paris
geschickt. Für die Fahrt bis zur deutschen Grenze kalkulierte man 169 364 Franc, für die Strecke bis Auschwitz 39 000 Reichsmark. Die Dokumente sollten an das
Reichssicherheitshauptamt in Berlin weitergeleitet werden, an die Terrorzentrale des »Dritten Reiches«.
Das Unternehmen war 1917 unter dem Namen Deutsches Reisebüro von zwei großen Reedereien sowie den Staatsbahnen der deutschen Länder gegründet worden, seit 1918 trug es den Namen
Mitteleuropäisches Reisebüro. Es verkaufte vor allem Bahnfahrkarten und später auch Gruppenreisen. Auf Anordnung der Alliierten musste das MER 1946 wieder den Namen
Deutsches Reisebüro annehmen.
Gedenkstätte Auschwitz
Im Jahr 2000 übernahm der Rewe-Konzern das Deutsche Reisebüro und machte es zu einem Teil seiner Reisesparte, die heute unter dem Namen DER Touristik Group mit mehr als 10 000
Mitarbeitern einen Jahresumsatz von 6,7 Milliarden Euro erzielt. In den Selbstdarstellungen des Unternehmens taucht das dunkle Kapitel aus der NS-Zeit freilich nirgends auf,
noch 2002 hieß es in einer Pressemitteilung zum 85. Geburtstag: »Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges versiegt der organisierte Reiseverkehr.«
Dass das nicht stimmte, war nur Experten klar. Der Berliner Historiker Bernd Sambale etwa veröffentlichte im Januar 2013 einen gründlich recherchierten Artikel in der
»Berliner Zeitung« über die Rolle des MER im Nationalsozialismus; wenig später stellte der Hamburger Autor Peter Wuttke das Faksimile eines Telegramms auf die
Wikipedia-Seite des Deutschen Reisebüros, mit dem die Berliner Reichsbahnzentrale 1942 alle Reichsbahndirektionen angewiesen hatte, die »Abfertigung« der
»Juden-Sonderzüge« grundsätzlich dem MER zu überlassen.
Unter den Mitarbeitern der DER Touristik lösten solche Veröffentlichungen verständlicherweise Irritationen aus. Und so entschloss sich das Unternehmen, zum 100.
Firmenjubiläum 2017 eine historische Studie anfertigen zu lassen, die auch die Verstrickung des MER in die NS-Verbrechen aufklären sollte. Das Kölner Geschichtsbüro Reder,
Roeseling & Prüfer, eine private, von Historikern geführte Agentur, übernahm den Auftrag und legte eine umfassende Untersuchung vor.
Veröffentlicht wurde die Studie allerdings bis heute nicht. »Trotz intensiver Recherchen«, so erklärt die DER Touristik auf Anfrage, »sah das Geschichtsbüro die Quellenlage
zur Rolle des MER bei den Deportationen als sehr schmal an.« Es sei deswegen unmöglich gewesen, eine »konkrete Beteiligung zu untersuchen«. Eine Veröffentlichung habe man nie
geplant. Die Studie habe nur der »Selbstvergewisserung« des Unternehmens gedient.
Die DER Touristik ist nicht das erste Unternehmen, das seine Unternehmensgeschichte in der NS-Zeit untersuchen lässt. Daimler-Benz hat das schon in den Achtzigerjahren gemacht;
auch die Deutsche Bank, Volkswagen, die Deutsche Bahn und viele andere Firmen haben Historiker mit ähnlichen Studien beauftragt und diese dann veröffentlicht. Dass eine solche
Untersuchung am Ende im Safe verschwindet, kommt eher selten vor.
Mindestens acht Passagiere
hatten sich vor der Abfahrt nach
Theresienstadt selbst getötet.
Dabei dürfen Manager, die offen mit den Sünden ihrer Vorvorgänger umgehen, heute sogar mit einem gewissen Reputationsgewinn rechnen, sie schaden dem Ansehen ihrer Firmen
keineswegs. Bald 75 Jahre nach Kriegsende trägt niemand mehr eine persönliche Verantwortung für das, was damals geschah.
Im Kölner Geschichtsbüro scheint man denn auch nicht glücklich mit dem Prozedere der DER Touristik zu sein. »Wir haben keinen Einfluss darauf, was der Kunde mit unserer Arbeit
macht«, sagt Thomas Prüfer, einer der drei Geschäftsführer. Man sei nur ein »privater Dienstleister«. Auf die Frage, ob ein so restriktiver Umgang mit der Wahrheit mit seinem
Berufsethos als Historiker vereinbar sei, räumt er jedoch ein: »Wenn ich jetzt an der Uni wäre, hätte ich ein Problem.«
Die DER Touristik wiederum muss sich fragen lassen, ob eine solche Studie wirklich als Privatbesitz eines Unternehmens gelten kann – juristisch wohl schon, aber auch
politisch-moralisch? Hat die Öffentlichkeit kein Recht darauf zu erfahren, wie ein Unternehmen an der Vernichtungsmaschinerie der NS-Zeit beteiligt war?
Warum die DER Touristik die Quellenlage als »schmal« qualifiziert, lässt sich ohnehin nicht nachvollziehen. Das Sündenregister des MER könnte dicke Bücher füllen. Nach der
Machtergreifung der Nazis meldete man bereits im September 1933 das Ausscheiden aller »nichtarischen Angestellten«, schon bald durfte man auch »Kraft durch Freude«-Reisen für
verdiente Volksgenossen organisieren. Das Unternehmen expandierte und zählte Mitte der Dreißigerjahre mehr als 1100 Verkaufsstellen im In- und Ausland. 1936 wurde Frank
Hensel zum Personalchef des MER ernannt, ein sogenannter »alter Kämpfer« der NSDAP und von 1938 an auch Angehöriger der SS.
Richtig gut ins Geschäft kam man dann dank der Eroberungspolitik der Nazis. Im Frühjahr 1939 war das MER am Transport von 7900 Zwangsarbeitern aus dem sogenannten Protektorat
Böhmen und Mähren beteiligt, wie der Historiker Sambale herausfand. 1940 rechnete das MER allein 645 Sonderzüge mit insgesamt 320 000 polnischen Landarbeitern ab, die zum
Arbeitseinsatz ins Deutsche Reich verfrachtet worden waren.
MER-Dokument »Sehr schmale Quellenlage«? |
Verdient hat das MER auch an der Vertreibung der Juden aus Europa. 1940 unterbreitete das Unternehmen dem Leiter der Reichszentrale für jüdische Auswanderung und späteren
Holocaust-Organisator Adolf Eichmann den Vorschlag, Emigranten mit Sonderzügen nach Lissabon zu schicken. Von dort aus ging es per Schiff nach Amerika. Der Vorschlag wurde
angenommen, ein »sehr ertragreiches« Projekt, wie man im MER bald feststellte.
Andere Flüchtlinge fuhren mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Fernost. Und wieder besorgte das MER die nötigen Tickets. Der Würzburger Kaufmann Jakob Rosenfeld zum
Beispiel musste 1940 zusammen mit seiner Ehefrau Bertha seine Heimat verlassen. Das MER stellt Jakob Rosenfeld Fahrkarten bis Yokohama aus, von dort reiste man dann weiter in die
USA. Das Geschäft mit den jüdischen Emigranten, so bilanzierte ein MER-Aufsichtsrat 1941, habe zu einem »erheblichen Gewinn« geführt.
Zwangsarbeiter, Saisonarbeiter, Emigranten – sie alle waren, häufig unfreiwillig und ohne es zu wissen, Passagiere des MER. Aus Sicht der NS-Regierung hatte sich das
Unternehmen damit genug Expertise angeeignet, um es auch an der Deportation europäischer Juden in die Konzentrationslager zu beteiligen.
Wer Claude Lanzmanns Dokumentarfilm »Shoah« gesehen hat, wird sich an die Szene erinnern, in der der Historiker Raul Hilberg über den Ablauf der Transporte in die
Vernichtungslager berichtet. Hilberg erklärt genau die Tarife, nach denen die Züge abgerechnet wurden, und beiläufig nennt er auch das dafür verantwortliche
Mitteleuropäische Reisebüro. »Es beförderte Menschen in Gaskammern und Urlauber an ihre bevorzugten Ferienorte«, sagt Hilberg mit dem ihm eigenen Sarkasmus.
Am 25. Juli 1942 beispielsweise ließ die Gestapo 14 Waggons von Düsseldorf nach Theresienstadt fahren. Auf eine entsprechende Anfrage der MER-Filiale in Köln hatte die Gestapo
am Tag zuvor gemeldet, dass 700 Juden sowie 16 Wachleute auf den Transport gehen würden. Das MER berechnete daraufhin den Preis der 827 Kilometer langen Reise auf 16,60
Reichsmark pro Person. Bezahlt wurden die Fahrtkosten von der Abteilung für »Judenangelegenheiten« der Düsseldorfer Gestapo. Tatsächlich aber stammte das Geld aus
konfiszierten jüdischen Vermögen.
Nach Abzug einer Vermittlungsgebühr – in der Regel etwa fünf Prozent – leitete das MER die aus dem Reiseverkauf erlöste Summe an die Reichsbahn weiter, die den Zug gestellt hatte.
Da der Zug an sechs Waggons mit etwa 280 jüdischen Passagieren aus Aachen angekoppelt wurde, erreichten am 26. Juli knapp 1000 Deportierte den Bahnhof Theresienstadt.
Eigentlich sollte die Zahl sogar noch höher sein, doch mindestens 8 Passagiere hatten sich vor der Abreise selbst getötet. Insgesamt überlebten nur 61 Menschen aus diesem Zug den
Holocaust.
Die Kriegsjahre erwiesen sich als die bis dahin besten überhaupt in der Geschichte des MER. Der Umsatz war schon zwischen 1932 und 1939 von 140 Millionen auf 240 Millionen Reichsmark
gewachsen, 1943 aber lag er bei 343 Millionen.
Im historischen Rückblick auf der Internetseite der DER Touristik fehlt die NS-Zeit dennoch komplett. Auch in den älteren Selbstdarstellungen des Deutschen Reisebüros wird nur
die Zerstörung der MER-Zentrale durch alliierte Bomber im Jahr 1943 erwähnt.
Ein Angebot des Berliner Historikers Sambale aus dem Jahr 2006, die Geschichte des MER unter dem Nationalsozialismus aufzuarbeiten, wurde von dem Unternehmen denn auch
abgelehnt. Die »Aufarbeitung dieser Zeit« sei eigentlich Sache der Bahn, antwortete man damals dem Historiker, schließlich sei die Reichsbahn einst »Hauptgesellschafter des MER«
gewesen.
Das Deutsche Reisebüro beteiligte sich auch nicht an der zwischen 2001 und 2007 von der deutschen Wirtschaft finanzierten Zwangsarbeiterstiftung »Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft«. Und das, obwohl das MER einst Tausende Zwangsarbeiter quer durch Europa verschickt hatte. Das Geld übrigens hätte die 500 Millionen Euro schwere »MER-Pensionskasse«
spendieren können; die gibt es unter diesem Namen noch heute.
2018 unternahm die DER Touristik den Versuch, die unterschiedlichen Wikipedia-Einträge, die über das Deutsche Reisebüro und die DER Touristik existieren, in einer
gemeinsamen Version zusammenzufassen. Klar war allen Beteiligten, dass man die ohnehin schon sehr kurze Passage zur NS-Geschichte nicht löschen durfte und in die gemeinsame
Seite übernehmen musste.
Doch in der Wikipedia-Community habe sich schnell Misstrauen gegenüber den Motiven des Unternehmens geregt, berichtet der Wiki-Autor Wuttke. Immer neue Versionen seien von
diversen Autoren formuliert worden. Am Ende blieb die Seite des Deutschen Reisebüros bestehen, mit einem knappen Hinweis auf das Kapitel von 1933 bis 1945.
Auf der Wikipedia-Seite der DER Touristik hingegen ist davon keine Rede. Die Unternehmensgeschichte beginnt dort zwar korrekt im Jahr 1917. Aber zwischen der Gründung der ersten
Tochtergesellschaft in den USA im Jahr 1926 und der angekündigten Übernahme des Unternehmens durch die Rewe-Group 1999 klafft nun eine riesige Lücke.
Martin Doerry - aus: SPIEGEL 50-2019
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das erlebe und beobachte ich in den letzten jahren immer öfter, dass große firmen und auch "staatliche"
(nachfolge-)institutionen sich von der "last der verantwortung" über das tun und verhalten ihrer damaligen vorläuferorganisationen oft mit einem kurzen öffentlichen schulterzuckendem bedauern und
eisernem "vertuschen" befreien wollen, und mit einer gedenktafel mit weißem lilienstrauß vielleicht oder gar einer gedenkkapelle dann endgültig meinen, nun sei es doch nach 80 jahren "auch mal gut" -
und vielleicht noch den totensonntag oder den 9. november oder den 27. januar mit einer rituellen gedenkfeier als wiederkehrende pflichtveranstaltung "feierlich" begehen.
auch scheint es im großen und ganzen unfein zu sein, die altvorderen direktoren oder chefärzte etc. in solchen
staatlichen oder halbstaatlichen institutionen zu jener zeit mit ihrem tun oder lassen oder mit ihrer nsdap-mitgliedschaft etwa namentlich zu desavouieren - man meint dann wohl, "nestbeschmutzer" zu
sein - und "das gehöre sich nicht" - "ich will ja nichts gesagt haben, aber..." - und das, obwohl die vielleicht "schützenswerten" details wegen der nächsten angehörigen oder auch verwandter
namensträger längst vom zahn der zeit zerbröselt sind.
da werden diese "würdenträger" immer noch oft in hohen ehren gehalten (namensgebungen von straßen und
einrichtungen oder abteilungen, bildergalerien im jubiläumsbuch des unternehmens etc.), aber das wirken und die denunziationen, die preisgabe und die kooperationen in jener zeit mit und gegenüber den
ns-organisationen wird einfach abgespalten und verschwiegen - und da achten sogar noch streng die jetzigen (amts-)inhaber in der zweiten nachfolge-generation auf eine angeblich "weiße weste", obwohl
die bei genauem hinsehen viele flecken und fehlstellen hätte.
und trotzdem klopft man sich gerade in deutschland ja auch als "weltmeister" in sachen gedenk- und
erinnerungskultur gern selbst auf die schulter - aber immer im "großen & ganzen", weniger im vielleicht zu nahe kommenden "detail" - und das gilt für unternehmen, institutionen und familien
gleichermaßen.
und tatsächlich - so las ich neulich - meint man sogar in israel, dass einige verwicklungen mit dem holocaust in
deutschland akribischer aufgearbeitet sind, als vielleicht von historischen fakultäten in israel - und auch andere staaten zollen deutschland darin ja ihren respekt. und so hat man diesen kollektiven
"mit-täter"-aspekt "im volk" dann "schluss-endlich" nach eigenem bekunden auch sowas von "bereut" und um "verzeihung" gebeten...
aber dieser nimbus bröckelt zur zeit rapide durch das allmähliche aufflammen antsemitischer ressentiments in
letzter zeit - und durch das aufkommen offensichtlich rechter und rechtsradikaler tendenzen im alltag der bundesrepublik.
bei genauem hinsehen muss man feststellen, dass viele große firmen und institutionen die mitarbeit und ausbeutung
z.b. von zwangsarbeitern kaum aufgearbeitet haben oder sich vielleicht mit einem relativ geringen "sühnebeitrag" in irgendeine "wiedergutmachende stiftung" quasi "freikaufen" - und damit aber nun
wirklich endgültig "vergessen" wollen.
und doch sagt just heute dazu die bundeskanzlerin in auschwitz u.a.:
"An die Verbrechen zu erinnern, die Täter zu nennen und den Opfern ein würdiges Gedenken zu bewahren ‑ das ist eine Verantwortung, die nicht endet. Sie ist nicht verhandelbar; und sie gehört untrennbar zu unserem Land. Uns dieser Verantwortung bewusst zu sein, ist fester Teil unserer nationalen Identität, unseres Selbstverständnisses als aufgeklärte und freiheitliche Gesellschaft, als Demokratie und Rechtsstaat."
aus eigener anschauung in der über 30-jährigen forschungsarbeit zum "euthanasie"-ermordungsgeschehen um meine tante erna kronshage stelle ich fest,
also - es wird durchaus in der geschichtsaufarbeitung auch taktiert - und auf alle fälle hat man es nicht sehr
eilig damit - 80 jahre danach - und die tatsächlichen zeitzeugen können einem ja bald nicht mehr an die karre pullern...
frau merkel hat eine solche praxis der aufarbeitung mit ihrem satz: "das ist eine Verantwortung, die nicht endet. Sie ist nicht verhandelbar; und sie gehört
untrennbar zu unserem Land" sicherlich nicht gemeint.
das inszenierte pflichtgedenken
Verkitschung des Grauens
Gedenken angesichts der Banalisierung des Bösen
Die Zeitzeugen sterben langsam weg, aber gemeinsames Erinnern bleibt trotzdem bedeutsam - gerade in rauen Zeiten. Eine
Kolumne.
Von GERD APPENZELLER | Tagesspiegel
Geschichte gerät nicht in Vergessenheit, wenn die letzten Zeitzeugen des Erlebten gestorben sind. Was die
Erinnerung des Menschen und eines Volkes beschäftigt, traumatisch oder verklärend, spaltend oder zusammenführend, lebt im Gespräch fort. Das aber entfaltet seine Kraft auch als Reflexion auf
aktuelles Geschehen, oder im Anblick jener Orte, an denen Geschichte geschah. Zu keiner Zeit des Jahres verdichtet sich der Blick auf das, was war, so sehr wie im November. Totensonntag und
Volkstrauertag als Marken des Gedenkens an unsere Toten, an die Opfer von Krieg und Rassenhass.
Und der 9. November, an dem eben nicht nur vor 30 Jahren die Mauer fiel, sondern an dem 1938 mit der Pogromnacht die Vernichtung jüdischen Besitzes und der millionenfache Mord an den europäischen
Juden begannen. Vor allem dessen zu gedenken ist heute aktueller denn je, auch wenn die letzten Zeitzeugen, die uns berichten können, bald nicht mehr unter uns sein werden. Aber Antisemitismus und
Antiziganismus – die sind heute virulenter als noch vor wenigen Jahren.
Juden sind in Deutschland immer öfter Anpöbeleien und nicht nur verbalen, sondern auch körperlichen Attacken ausgesetzt. „Die Zeiten und der Ton sind rauer geworden“, wurde gerade in Berlin bei einer
Tagung des Fördervereins Sachsenhausen konstatiert. Und in der dabei gehaltenen „Sachsenhausen Lecture“, einem Vortrag zum nationalsozialistischen Massenmord, veranschaulichte der polnische
Historiker Robert Traba, wie sich das Gedenken am Ort des Geschehens, in den ehemaligen Konzentrationslagern, verändert habe.
Da sind Touristen, die in die Gedenkstätten, gerade auch nach Sachsenhausen, fahren, nicht, um mit dem Furchtbaren konfrontiert zu werden, sondern um ein Foto zu machen – „Ich vor dem Wachturm“.
Andere kommen in das ehemalige KZ nur, um zu provozieren. Reiner Walleser, Abteilungsleiter für Kultur im brandenburgischen Wissenschaftsministerium, hat ihr Vorgehen anlässlich der erwähnten Tagung
beschrieben.
Zweifel werden von rechten Besuchergruppen in KZ´s selbstbewusst gestreut
Es ist eine neue, aber bereits verbreitete Methode rechter Gruppierungen, die dann bei Führungen Zweifel äußern, ganz selbstbewusst: Waren das wirklich sechs Millionen Juden, die umgebracht wurden?
Und das mit den Verbrennungsöfen glaube doch sowieso keiner. Das griff Robert Traba, der von 2006 bis 2018 Gründungsdirektor des Berliner Zentrums für Historische Forschung der Polnischen Akademie
der Wissenschaften war, auf. Erinnerte an die NS-Aktion Damosz und ihre Verbrechen zwischen dem Frühjahr 1942 und dem Sommer 1944 – von 400.000 ermordeten Juden ist keine Spur zurückgeblieben, nicht
in Sobibor, nicht in Maidanek, nicht in Lublin.
Wie gedenkt man angesichts der Banalisierung des Bösen? Robert Traba fürchtet die Verkitschung des Grauens. Er führt dem Publikum das Gegenteil vor, eine Tonaufnahme aus dem Vernichtungslager
Kulmhof. Nichts ist da zu hören als der Wind, der über die weite, öde Fläche der Gedenkstätte weht. Wird Einsamkeit so spürbar? Kann, fragte ihn Gesine Schwan, die Berliner Sozialwissenschaftlerin,
und wollte das auch von den Hörern wissen, kann ein Erinnerungsort im Besucher das Gefühl auslösen, das ein Mensch hatte, der dort einmal als Opfer gewesen ist? Sie gab Robert Traba und anderen
diesen Gedanken mit: Du, Robert, hast Sehnsucht nach etwas, was es nicht geben kann.
Die Verkitschung des Gedenkens ist ein zulässiges Mittel - um Empathie zu wecken
Dennoch ist die Verkitschung des Gedenkens ein künstlerisches und wohl auch zulässiges Mittel, Empathie zu wecken, sich eben doch in das Leid der Opfer hineinzufühlen. Die Holocaust-Verfilmung mit
Meryl Streep aus dem Jahre 1974 ist, schaut man die Folgen mit dem Wissen und dem ästhetischen Empfinden von heute noch einmal an, Kitsch. Und doch hat dieses Doku-Drama in einer ganzen Generation –
ich selber zähle dazu – völlige Fassungslosigkeit über das Leid ausgelöst, von dem wir alle aus Schulbüchern und aus Seminaren wussten und das uns doch hier das erste Mal, am Beispiel des Schicksals
einer Familie, wirklich ergriff.
Die Erinnerung an den Holocaust und an die Toten der beiden Weltkriege ist gleichermaßen eine europäische wie eine nationale Erinnerung. Es ist eine Erinnerung daran, dass das, was zwischen 1939 und
1945 geschah, etwas anderes ist als ein Vogelschiss in der Weltgeschichte. Man muss nur nach Sachsenhausen fahren. Es ist ganz nah. In jeder Beziehung, und nicht nur im November.
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erna kronshage - ausschnitt aus dem
original-fotoabzug - ca. 1940
|
ist das verkitschung? - das gleiche foto von 1940 digital coloriert... |
geschichte - in design, performance und choreografie
der "spiegel" schreibt in einem artikel über alexander von humboldt: "Der gute Deutsche - wirklich?":
"Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und ihr Kollege David Blankenstein bereiten für das Deutsche Historische Museum – schräg gegenüber der Schlossbaustelle – eine Ausstellung über die Brüder Humboldt vor, im November soll sie eröffnet werden, und sie wird Diskussionsstoff bieten.
Savoy war 2017 aus dem Beirat des Humboldt Forums ausgetreten, weil sie den Eindruck hatte, im künftigen Schloss solle mit der unkritischen Präsentation ethnologischer Objekte deutsche Kolonialgeschichte beschönigt werden. Sie löste mit ihren Einwänden eine internationale und in Berlin noch nicht verwundene Debatte aus.
Vielen gilt sie seither als Rebellin, vor allem ist die gebürtige Französin aber eine viel beschäftigte Professorin, sie lehrt in Paris und Berlin. Die Einladung des Deutschen Historischen Museums, mit Blankenstein diese Ausstellung zu gestalten, nahm sie dennoch an. Zu verlockend erschien beiden Experten die Möglichkeit, "historische Zusammenhänge, Tatsachen zu repräsentieren und nicht das, was daraus gemacht wurde".
Denn jede Epoche stülpte ihre eigenen Deutungen und Umdeutungen über die Humboldts – die beiden Kunsthistoriker nennen das "Geschichtsdesign". Und sie möchten ein Bewusstsein dafür schaffen, wie es gelingen könnte, sich von diesen Interpretationen zu emanzipieren." ...
"geschichtsdesign", das ist für mich das stichwort. ich meine das gar nicht despektierlich. und man
könnte wohl auch das ganze dem menschen anheimfallende zeitgeschehen, in das er hineingeboren wird, und was ihm seine eltern und ahnen transgenerational und vielleicht sogar spiegelneuronisch mitgeben und seine jeweilige anpassungen darauf, sein zurechtlegen eines individuellen "normativen lebens", auch als
"geschichts-performance" bezeichnen, zu deren gelebter alltäglicher "choreografie-anforderung" er ja eine antwort finden muss - und oft eben ein mit-gehen und abwägen.
lebenslinie - sinedi.@rt |
hier im blog habe ich in einem anderen zusammenhang schon einmal definiert: gerade "wir deutschen" - aber auch sicherlich all die "aus"-länder, die in den schrecken der kriege miteinbezogen wurden - haben sich wahrscheinlich alle mehr oder weniger in ihren beteiligten familiengeschichten auch mit "dunklen aspekten", mit schattenseiten, bewusst oder unbewusst auseinanderzusetzen. das problem ist, dass durch verschweigen, durch scham - und schlicht aus unwissenheit und unsensibilität - es oft zu einer vernünftigen aufarbeitung der eigenen herkunfts-familiengeschichte durch schonungslose recherche erst gar nicht kommt.
geschichte-tes - sinedi.@rt |
von einem gestalttherapeuten erfuhr ich vor jahren bereits seine definition des wortes: "ge-schichte" gehört:
und auch nach dem grimm'schen wörterbuch gibt es noch im mittelhochdeutschen eine heute verloren gegangene
bedeutung von "schicht" als synonym für "ge-schichte":
schicht, ableitung von ahd. scehan: sich schicken, fügen, ereignen, das ebenfalls einfach nicht vorhanden, aber in geschehen erhalten ist. In der bedeutung ist "schicht" synonym mit "geschichte" [...].
geschichte durchläuft also "phasen" des geschehens, die der mensch sich in seinem leben zu eigen machen muss - zumindest muss er sich aktiv damit auseinandersetzen - und sie "lagern sich ab" in seinem inneren erfahrungsschatz - und üben durch ihn ihre choreografie in und an ihm aus, als "designs" und "performances".
entscheidung treffen - sinedi.@rt |
ich bin jetzt fast 73 jahre alt - und bin ja auch als "linksgrünversiffter" 68-er und als sohn eines diakons
und einer haushaltsgehilfin, aber gleichzeitig väterlicherseits auch eines "wehrmachts"soldaten, aber auch als neffe eines mordopfers der ns-euthanasie (vor meiner zeit) - aber dann "bewusst" als
zeitzeuge des kennedy-mordes, des vietnam-krieges, des berliner mauerbaus und des falls der gleichen mauer nach 28 jahren und allen fantastischen und unerhörten begleiterscheinungen dazu, und dem
flüchtlingsdrama und der wahl von trump zum amerikanischen präsidenten - und der persönlichen ausübung in 7 (sieben) verschiedenen abgeschlossenen berufstätigkeiten in insgesamt fast 50 berufsjahren
- (jeweils von der pieke auf) - und und und... - schon oftmals sicherlich zu "pirouetten" und "purzelbäumen" und zur "schraube rückwärts" in meinem relativ überschaubaren "geschichtsdesign"
gebracht worden. -
aber für jede verhaltens-entscheidung gibt es eben tausend andere möglichkeiten - die hat uns unsere uns
eingeborene und mitgegebene "freiheit" eingeräumt - und da ist mein eingebautes und mir überkommenes "navi" für "moral" und "gut" und "schlecht" ein guter wegweiser - wenn wir
seine inneren signale überhaupt wahrnehmen können - evtl auch als ad-hoc-"bauchentscheidung", wo ja das [!] "ge-schichte-te" eingelagert erscheint.
und da kommt dann unsere jeweilige "antwort" auf die geschehnisse in und um uns herum ins spiel - unsere
"ver-antwort-ung" - ja, für mich auch "vor und mit gott"... - also quasi unsere gewählten bewegungsablauf- und entscheidungsantworten auf die jeweiligen situationen im äußeren und inneren uns
prägenden hier und jetzt: ecce homo - siehe: ein mensch...
und ob die "zuschauer" im saal nun mehrheitlich nach jeder sequenz dazu beifall klatschen oder doch trampeln und
pfeifen oder sich gar zum "standing ovation" aus ihren sesseln erheben für das jeweilig irgendwie aufgestülpte oder gewählte oder verantwortete "design" - und für die performance und die
choreografie-"antwort" dazu - das sei mal dahingestellt.
aber wenn wir jetzt beim tödlichen attentat auf fritz von weizsäcker auch über die hintergründe der weizsäcker-familiengenerationen und ihren verstrickungen und
lebens"lösungen" und -losungen in den jeweiligen epochen lesen - oder über die anbiederungen an die nationalsozialisten von emil nolde, auch um seiner verkaufsstrategien willen - den weg von
herbert ernst karl frahm hin zu willy brandt - oder die balkan-verirrungen eines peter handke - den lebensweg von leonard cohen - und viele andere mehr - so sind das unter vielen anderen
"aufführungen" und "darbietungen" unter den jeweiligen zeitlichen und überkommenen umständen eben "perfomances" im blickpunkt, im grellen licht des spots, eines öffenlichen interesses an einer
gewissen allgemeinen "prominenz" - einer "elite", die genau beobachtet und bewertet wird und über sie berichtet wird.
und nicht umsonst spricht man ja bei unternehmen und behörden oft "körper-schaften", weil sie eben im großen und
ganzen ebenso funktionieren und ticken wie einzelwesen - und sich, um zu überleben, auch kollektiv anpassen müssen an den jeweiligen zeitgeist (wir haben das gehört von bahlsen, krupp, benteler und
anderen mehr - aber auch bethel sowie anderen "heilanstalten" von früher: denn "zeit = geld" - und ist der ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert...
aber wie der einzelmensch sollte auch die "körper-schaft" sich ihrer jeweiligen vergangenheit und verantwortung
bewusst werden und schonungslos aufdecken und als feste "lebenserfahrung" integrieren in den heutigen werksalltag - die obligatorische gedenktafel - und dann den abspaltungs-haken dahinter - das ist
da zu dürftig.
macht et jut - un nix für ungut - chuat choan...
hier geht's lang - sinedi.@rt |
Beschwerdebrief des Ministerpräsidenten
Polen wirft Netflix historische Fehler vor
Die Dokuserie "Der Teufel wohnt nebenan" handelt von dem Kriegsverbrecher John Demjanjuk. Die
NS-Konzentrationslager würden in der Netflix-Produktion auf historisch falschen Karten gezeigt, kritisiert Warschau.
Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki hat sich in einem Brief bei Netflix-Chef Reed Hastings über Fehler in der Serie "Der Teufel wohnt nebenan" (Originaltitel "The Devil Next Door")
beschwert.
Am Montag begründete der nationalkonservative Politiker auf Facebook selbst diesen Schritt: Historische Darstellungsfehler in solchen Filmproduktionen seien "für deren Schöpfer vielleicht nur
unwichtige Irrtümer, aber für Polen sind sie sehr schädlich, deshalb ist es unsere Aufgabe entschlossen zu reagieren". Ein Netflix-Sprecher erklärte, man prüfe den Sachverhalt mit Dringlichkeit.
In der Dokumentarserie über NS-Konzentrationslager und die Suche nach dem Kriegsverbrecher John Demjanjuk sei insbesondere durch historisch falsche Landkarten der Eindruck entstanden, Polen sei
für Konzentrationslager und darin begangene Verbrechen verantwortlich gewesen, kritisierte Morawiecki in einem Brief, den er auf seiner Facebookseite veröffentlichte.
Tatsächlich aber habe Polen während des Zweiten Weltkriegs gar nicht als Staat existiert, sondern habe unter der deutschen Besatzung und Gewaltherrschaft gelitten. Viele polnische Bürger seien
ermordet worden, weil sie versucht hatten, ihre jüdischen Nachbarn zu retten.
Zuvor hatte bereits das polnische Außenministerium via Twitter kritisiert, die in der Serie genutzte Karte zeige nicht historisch korrekte Grenzen.
Die polnische Regierung achtet streng darauf, dass beispielsweise deutsche Konzentrationslager auf heute polnischem Gebiet nicht als "polnisch" bezeichnet werden. Dies ist durch ein eigenes Gesetz
ausdrücklich verboten. Vor allem Vertreter Israels kritisierten in der Vergangenheit wiederholt, das Gesetz könnte auch dazu missbraucht werden, jede Mittäterschaft von Polinnen und Polen an
NS-Verbrechen zu leugnen.
Die von den israelischen Regisseuren Yossi Bloch und Daniel Sivan gedrehte fünfteilige Serie "Der Teufel wohnt nebenan", die unter anderem die Prozesse gegen John Demjanjuk in Israel und Deutschland
nachzeichnet, wurde bisher überwiegend positiv rezensiert. So konnte sich das "Wall Street Journal" kaum "lohnendere fünf Stunden Fernsehen" vorstellen.
Auch die Betreiber der Auschwitz-Gedenkstätte würdigten auf Twitter, dass "Der Teufel wohnt nebenan" eine wichtige Geschichte erzähle. Allerdings könne man mehr Genauigkeit von einer solchen
Produktion erwarten.
Text und Bildmaterial: SPIEGELonline
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hinsehen! - was wir von bombenentschärfungen lernen können für's leben
Ausschnitte aus einem "bento"-Artikel von Susan Barth
(Original: click here)
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Als wir in den Bunker kommen, scheint mir Kunstlicht ins Gesicht. Es regnet schon den ganzen Tag
hier in Berlin. Drinnen ist die Luft kühl und trocken, zwei Mitarbeiterinnen unterhalten sich leise hinter der
Kasse. Eine Freundin und ich besuchen heute eine Dauerausstellung im Story-Bunker Berlin. Alles, was wir heute sehen werden, steht unter einer einzigen Frage: Wie konnte das geschehen? "Das" ist
Hitler. Der Nationalsozialismus. Der zweite Weltkrieg. Der Holocaust. Zerstörte Städte. Zerstörte Familien. 55 Millionen Tote.
Wir zahlen 13,50 Euro für ein Kombiticket inklusive Audioguide und schließen unsere feuchten Rucksäcke in einem
Schließfach ein.
Ich weiß, dass ich in dieser Ausstellung keinen Spaß haben werde.
Stattdessen wird sie mich aufwühlen. Ich werde gleich immer stummer werden. Ich werde fassungslos sein. Ich werde
auf einer der Bänke sitzen und nicht bemerken, dass ich weine.
Warum besuche ich die Ausstellung trotzdem?
Weil ich das Gefühl habe, dass ich es muss. Weil ich glaube, dass Museen, Dokumentationszentren und Ausstellungen
nicht nur für Schulklassen gemacht sind. Und dass jeder von uns sie regelmäßig besuchen sollte.
Weil man sich regelmäßig daran erinnern sollte, was vor achtzig Jahren passiert ist. Überall in Deutschland, in
Europa, auf der Welt. Auch nach der Schule. Auch, wenn es niemand mehr für einen organisiert.
Nach der Schule war da niemand mehr, der darauf Wert legte, dass ich Dokumentationszentren oder Lesungen
Holocaust-Überlebender besuchte. Niemand zwingt mich heute dazu, mich weiter mit diesem Kapitel deutscher Geschichte zu beschäftigen.
Dennoch versuche ich, mir das Grauen regelmäßig vor Augen zu rufen.
Ich sehe den Film "Das Leben ist schön" oder lese Paul
Celans "Todesfuge". Ich besuche Ausstellungen wie die im Story-Bunker, Mahnmale, Denkmäler und jüdische Friedhöfe in deutschen
Städten. Alles, was in mir ein Gefühl zu all dem auslöst, was geschehen ist.
Ich mache das nicht, weil ich es spannend finde oder meine eigenen Grenzen austesten will. Sondern weil ich glaube,
dass uns nichts anderes dieses Kapitel der Geschichte irgendwie näherbringen kann. Dass nur, wer fühlt, auch verstehen kann, dass so etwas nie wieder passieren darf. Dass das viel mehr bildet und
berührt als alle Fakten.
Ich kann hunderte Male hören, dass sechs Millionen Jüdinnen und Juden in Deutschland ermordet wurden. Diese Zahl
sagt mir wenig, sie ist zu abstrakt.
Aber in der Ausstellung sehe ich, was mit den Menschen passiert ist, die diese Zahl sind.
Das kann kein Geschichtsbuch. Gefühle lassen sich nicht erzwingen, aber man kann bereit dazu sein, sie
zuzulassen.
Manchmal frage ich mich, ob es moralisch in Ordnung ist, diese Menschen, ihre Bilder und ihre Schicksale zu
betrachten, um zu versuchen, das, was passiert ist zu verstehen. Aber so funktioniert die menschliche Psyche. Das, was wir fühlen und erleben, hinterlässt einen intensiveren Eindruck als das, was wir
uns einfach nur rational erfahren.
"Haben wir nicht langsam mal genug darüber gesprochen?", höre ich manchmal Menschen genervt sagen, wenn es um den Holocaust geht. Nein, das haben wir nicht. Seht es euch noch einmal
an. Alles. Und dann muss es doch offensichtlich sein, dass wir über Unaussprechliches niemals aufhören können zu sprechen.
Was vergangenen Mittwoch in Halle passiert ist, zeigt das auf eine furchtbare Weise ganz
deutlich.
Wie können Ermittlungsbehörden nach so einem antisemitischen, antimuslimischen, einem rassistischen Gewaltakt noch
von Einzeltätern sprechen, wenn Rechtsextremismus überall in Deutschland und im Internet immer präsenter wird? Wie kann man so tun, als würde es den ganzen Rest nichts angehen?
Was in Halle passiert ist, ist schwer in Worte zu fassen. Ich bin traurig. Ich bin sprachlos. Ich bin
wütend.
Es geht uns alle an. Deswegen wünsche ich mir, dass wir uns immer wieder dem Grauen
stellen.
Der Bildungsauftrag an uns selbst darf nach der Schule nicht vorbei sein.
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NS-EUTHANASIE-GEDENKEN
ERINNERUNG AN ERNA KRONSHAGE
Deutscher Text der Gedenktafel in Dziekanka - Gniezno:
Zu Ehren der Gefallenen und ermordeten
Mitarbeiter und Patienten von der Abteilung
für Psychiatrie - Dziekanka -
in den Jahren der Besatzung, 1939-1945 -
Mitarbeiter der Abteilung, August 1948
Diese Grabstätte Kronshage (Bezeichnung "A 3" auf dem Alten Friedhof Sennestadt) ist inzwischen eingeebnet worden, der Stein wurde entfernt. Jetzt "wächst Gras über diese Sache" - im wahrsten Sinne des Wortes: der Alte Friedhof wird vorzugsweise in einen Grünzug umgestaltet und nicht mehr belegt. Im Hintergrund dieses Fotos aus 2011 das "Ehrenmal" - das auch inzwischen "in die Jahre" gekommen war - und deshalb abgebaut wurde - die Inschriften und Opfer-Namenstafeln wurden an einem anderen Kreuz auf dem Friedhof wiederverwendet ... 2016 gibt es an der hier abgebildeten Stelle also weder Stein noch Denkmal - was in einem solchen Moment auch wie ein Aspekt zur Gedenk- und Erinnerungskultur in diesem Stadtbezirk wirkt ...
Über die Gestaltung des "Alten Friedhofes" in Sennestadt aber macht man sich erneut in Gremien und Arbeitsgruppen Gedanken. Nachdem die Kronshagesche Grabstelle 2013 aufgelöst und "fachgerecht" nach den schriftlich ausgehändigten Bestimmungen geräumt und eingeebnet wurde, gestattet man nach entsprechendem Beschluss der Stadtbezirksvertretung allerdings bereits seit 2012 wieder, Grabmalsteine auch stehen zu lassen, die einen irgendwie "historischen Wert" an sich haben ... - und man bietet wohl hier und da Patenschaften für einzelne Grabstätten an ...
Als die Nutzungszeit für das Familiengrab Kronshage also zum 01.05.2013 abgelaufen war, wurden diese inzwischen getroffenen entsprechenden Beschlüsse nicht frist-, sach- und fachgerecht im Rahmen der Friedhofsverwaltung in Sennestadt weitergegeben - so dass es zur beschriebenen Beseitigung auch des Familiengrabsteins kam ....
Doch da greift jetzt anscheinend sowieso eine neue Form der Gedenk- und Erinnerungskultur auch in neuen und anderen gesamthistorisch-kulturellen Zusammenhängen ... Schade - für die Grabstätte der Familie Adolf Kronshage und somit für die letzte Ruhestätte des Leichnams von Erna Kronshage kommt dieses neue Ansinnen einfach zu spät: der Stein ist unwiederbringlich geschreddert - und "es ist Gras über die Sache gewachsen" ... - ... "knapp vorbei ist auch daneben ..."
Mal sehen, ob eines Tages auf diesem Friedhofs- bzw. Grünareal wohl wieder ein Zeichen des Gedenkens und der Mahnung an das Opferschicksal Erna Kronshages erinnert ...
Zu entsprechenden Presse-Infos und Leserbriefen etc. dazu:
Bielefeld-Sennestadt -
Hier - direkt am Fußgänger-Überweg
der Schranken-/Ampelkreuzung
Verler Straße - Krackser Straße -
Sender Straße - in Laufrichtung
Bahn-Haltepunkt/Buskehre befindet
sich der "Stolperstein" zum Gedenken
an Erna Kronshage ... (vorn im
Bild - im Hintergrund hinter den
Bahnschienen das Geburtshaus -
der "Mühlenkamp" - Verler Straße 76
Genau 75 Jahre nach Hitlers "Euthanasie"-Befehl mahnt nun an der Tiergartenstraße in Berlin - wo sich die NS-Vernichtungszentrale der Tarn-Organisation "Aktion T4" befand - eine 24 m lange blaue transparente aber auch spiegelnde Wand mit einem Dokumentations- und Informationspult die oft brutalen Schicksale all der Opfer willkürlicher Ausgrenzung, "Ausmerze" und Gewalt an - gestern und heute ... | Foto: DPA -
Zur feierlichen Eröffnung der Gedenkstätte in Gütersloh wurden verschiedene für die historische Einordnung und Forschung bedeutsame Reden gehalten - die ich wegen dieser Wichtigkeit hier als pdf eingestellt habe ...
Quasi als "Komplementär"-Projekt zu den "Stolpersteinen" und Erinnerungseinrichtungen hat jetzt Hamburg eine Datenbank angelegt für die NS-Täter und NS-Karrieristen, die zeigt, dass manchmal Täter und Opfer in einer Straße als Nachbarn oder gar in einem Haus gelebt haben ... -
Hoffentlich folgen bald viele Stadtarchive diesem Beispiel - und auch Datenbanken für die Opfer sind ja noch rar gesät - und äußerst lückenhaft ...
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Wir kennen die Namen der großen NS-Verbrecher. Aber welche Profiteure gab es sonst noch im Dritten Reich? Wer bereicherte sich, wer denunzierte, wer machte Karriere auf Kosten anderer? In der
bundesweit einzigartige Datenbank "Die Dabeigewesenen" kann man nun die Täter und Mitläufer im nationalsozialistischen Hamburg finden.
Die Datenbank, initiiert von der Hamburger Landeszentrale für politische Bildung unter der Leitung der Historikerin Rita Bake, umfasst über 500 Profile, weitere sollen folgen. Außerdem will die Datenbank konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar machen - gegen das Vergessen. Schon jetzt zeigt sich, wie wichtig das ist: Mehr als 70 Jahre nach Kriegsende gibt es beispielsweise noch immer Straßen in Hamburg, die nach NS-Profiteuren benannt wurden.
Antisemiten als Namensgeber
Zum Beispiel die Georg-Bonne-Straße. Georg Bonne war ein Arzt aus Nienstedten, der sich um die Hygiene der armen Bevölkerung gekümmert hat, unter anderem, dass sie guten Wohnraum
bekamen - und gutes Trinkwasser. "Gleichzeitig war er seit frühester Jugend ein sehr überzeugter Antisemit", erzählt Rita Bake. "Er hat 1942 ein Pamphlet geschrieben, das 'Der ewige Jude' heißt und
ganz furchtbar ist."
Weitere Beispiele: Der Borchlingweg ist nach einem Professor benannt, der sich früh der NS-Ideologie verschrieb. Oder der Högerdamm. Namensgeber ist Fritz Höger. Der Hamburger Architekt hat unter anderem das Hamburger Chilehaus geschaffen, war aber auch NS-Profiteur und ein großer Hitler-Fan.
Zwei Jahre haben Rita Bake und ihre Mitarbeiter geforscht, um "Die Dabeigewesenen" aufzubauen. Zu Fritz Höger findet man einiges an Material, das nicht zum Bild des gefeierten Star-Architekten passt. "Er ist sehr früh in die NSDAP eingetreten, im Grunde genommen kann man ihn als Karrieristen bezeichnen", so die Historikerin. "Er hat auch nette Briefe an Herrn Hitler geschrieben. Und noch nach 1945 hat er ein Traktat geschrieben, in dem er schreibt: 'Genauso ist auch das Judentum ein solcher Schmarotzer in der gesamten Menschheit, die von ihm befallen wird ...'"
Die Datenbank richtet den Blick nicht nur auf die offensichtlichen Täter, sondern auf all jene, die das System unterstützten. Nicht nur Personen sind erfasst,sondern auch Orte und Ereignisse. Mit "Die Dabeigewesenen" kann also jeder die Geschichte entdecken - die der Opfer UND die der Täter - ganz einfach. ...
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HIER GEHT ES ZUR DATENBANK
Die Dabeigewesenen (hier clicken)
Das bundesweit einzigartige Datenbank-Projekt "Die Dabeigewesenen" will zeigen, wer die Täter und Karrieristen im nationalsozialistischen Hamburg waren.
das überleben der stolpersteine