DR. VICTOR RATKA - auch VIKTOR bzw. WIKTOR
*27.11.1895 Ober-Lazisk - + 05.04.1966 Heitersheim), als Oberschlesier und Direktor einer polnischen "Heilanstalt" spät anerkannter Volksdeutscher;
von 1918-1921 Medizin-Studium an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg;
Ärztliche Vorprüfungen 1918-1921 (Archiv: B 73/51);
Promotionsurkunde vom 01.10.1922 (Archiv-Bestand der Uni Freiburg unter D 11/83, D 29/27/1427);
Ratka betrieb Studien im Rahmen der David Julius Wetterhan-Stiftung*) von 1917-1922 (Archiv: B 1/619) ...
*) ... dazu - aus Mitteilungen der Jüdischen Gemeinde der Stadt Freiburg/Breisgau: Der im September 1914 hier verstorbene Privatier David Julius Wetterhan aus Frankfurt a. M. hatte in seinem Testament eine Stiftung von 168.000 Mark an der Freiburger Universität zur Förderung naturgeschichtlicher und medizinischer Studien errichtet."
1928 wurde Ratka Oberarzt der Anstalt Lublinitz;
Ab 1934 Direktor der Anstalt DZIEKANKA im Stadtgebiet Gniezno/Gnesen (nach Okkupation 1939 "Tiegenhof" genannt), während des Krieges reine Mordanstalt;
Ratka wurde als in Oberschlesien geboren und als Direktor einer zunächst polnischen Heilanstalt erst spät als "Volksdeutscher" anerkannt ...
Aufnahme in die SA (siehe dazu die Ablichtungen der SA-Aufnahme-Urkunden, die sich in der Personalakte Ratka in Dziekanka/Gniezno-PL befinden...).
Ab 01.09.1941 als Gutachter zeitweise zur T4-Zentrale abgeordnet, Selektion von Patienten und KZ-Häftlingen ("Aktion 14f13" - Selektionsarzt in KZs zur "Aussonderung" von "asozialen Häftlingen").
1943 Eintritt in die NSDAP;
Kurz vor der Einnahme der Gauheilanstalt Tiegenhof durch die Rote Armee setzte sich Ratka im Januar 1945 ins Altreich ab und befand sich bei Kriegsende in der Anstalt Pfaffenrode bei Mühlhausen/Thüringen. Im Archiv des "Ökumenischen Hainich-Klinikums" Mühlhausen befindet sich die Steuerkarte Ratkas - der am 1.04.1945 in Pfafferode eingestellt wurde.
Im März 1949 floh er aus der Sowjetischen Besatzungszone nach Wabern in Nordhessen. Ratka wurde im Rahmen der Entnazifizierung in Kassel als „Mitläufer“ eingestuft.
Er lebte schließlich als Pensionär in Baden - als ehemaliger Direktor einer "deutschen Heilanstalt"- relativ unbehelligt.
Gegen Ratka erging am 8. August 1961 zunächst Haftbefehl wegen seiner Beteiligung an der Aktion 14f13. Er galt jedoch als haftunfähig.
Der Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung, den der hessische Generalstaatsanwalt Dr.Fritz Bauer zudem am 24. Oktober 1961 eingereicht hatte, legte den beschuldigten Ärzten Dr. Ullrich und zunächst noch Dr. Victor Ratka und Dr. Curd Runckel zur Last, im Rahmen der „T4“-Aktion „aus niedrigen Beweggründen und mit Überlegung Menschen getötet zu haben“.
Die beteiligten Justizbehörden zogen diese Voruntersuchungen unbotmäßig in die Länge. Der Ankläger Dr. Fritz Bauer musste dazu u.a. dem hessischen Justizministerium berichten:
„Über meine Anträge aus der Anklageschrift […] hat die Strafkammer bisher nicht entschieden. Auf eine Sachstandsanfrage erklärte der Berichterstatter der 3.
Strafkammer, Landgerichtsrat Dr. Koch, folgendes: Die Akten müßten zunächst den einzelnen Anwälten zur Akteneinsicht übersandt werden. Es hätten sich bisher 8 Anwälte gemeldet […]. Da man jedem
Anwalt etwa eine 3monatige Erklärungsfrist zubilligt und er für diese Zeit die Akten benötige, würden allein über die Akteineinsicht 2 bis 3 Jahre vergehen, ohne daß über meine Anträge entschieden
werden könnte. Der Vorsitzende der Kammer […] habe […] die Akten (4 Ordner Hauptakten, 13 Ordner Nebenakten, 3 Ordner Protokolle, 4 Bände Beiakten) vervielfältigen lassen, bei der
Verwaltungsabteilung des Landgerichts versucht, für die Vervielfältigungsarbeiten einen Fotokopisten zu erhalten, damit dieser […] die anfallenden Arbeiten erledigen könnte. […] Die
Verwaltungsabteilung habe aber die Gestellung einer Hilfskraft abgelehnt. Demgegenüber ist mir bekannt, daß der Untersuchungsrichter IV, Landgerichtsrat Dr. Düx, der […] die Ablichtung von 25
Leitzordnern mit Zeugenaussagen für nötig hielt, durch persönliche Vorsprache beim Landgerichtspräsidenten in Frankfurt (Main) für 14 Tage eine Ersatzkraft gestellt erhielt.
Ich vermag über die Personalschwierigkeiten des Landgerichts mich nicht zu äußern. Ich halte es aber nicht für vertretbar, daß bei der bisherigen Sachbehandlung allein 2 bis 3 Jahre vergehen, bis
über meinen Antrag auf Eröffnung der Hauptverhandlung entschieden werden kann. Unter diesen Umständen ist überhaupt nicht abzusehen, wann es zu einer Hauptverhandlung kommt. Bei dem Umfang des
Materials, welches in den NSG-Verfahren anfällt, sollte mit allen Mitteln gegen Verzögerungen vorgegangen werden. Da auch bei meiner Behörde personell keine Möglichkeit besteht, die Ablichtung der
Akten durchzuführen, wäre ich dankbar, wenn ein solcher Fotokopist für etwa 3 bis 4 Wochen zur Anfertigung der Ablichtungsarbeiten zur Verfügung gestellt werden könnte.“
Neun Monate später berichtete Dr. Bauer dem Ministerium erneut:
„Der Sachstand ist unverändert. Über meine Anträge aus der Anklageschrift vom 15.1.1965, insbesondere über die Eröffnung des Hauptverfahrens, ist bisher nicht entschieden worden. Auf meine letzte Sachstandsanfrage hat der Vorsitzende der 3. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt (Main) durch Schreiben vom 16.3.1966 mitgeteilt, daß sämtlichen Verteidigern mit Schreiben vom 16.1.1966 die Übersendung der Fotokopien der Haupt- und Nebenakten mit dem Hinweis angekündigt worden sei, Erklärungen und etwaige Anträge innerhalb von 4 Wochen nach Erhalt der Fotokopien zu stellen […]. Auf entsprechende Anträge der Verteidiger sei die Einlassungsfrist im Falle Dr. Borm bis Ende März, in den Fällen Dr. Bunke und Dr. Ullrich bis Mitte April 1966 verlängert worden.“
Schließlich wurde das Ermittlungsverfahren gegen Ratka, der Morde in Tiegenhof bestritt, nach seinem Tod am 05.04.1966 eingestellt.
.....................................................
Eine notwendige Anmerkung:
Für Victor Ratka also posthum - am 8. Juni 1966, viereinhalb Jahre nachdem die gerichtliche Voruntersuchung gegen Ullrich und Ratka u.a. und drei Jahre nachdem diese gegen Bunke und Endruweit eröffnet worden war, ließ die 3. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt endlich die Eröffnung des Hauptverfahrens zu.
Die Hauptverhandlung gegen Ullrich, Bunke und Endruweit, die beschuldigt waren, in den Anstalten Bernburg, Sonnenstein und Brandenburg Tausende Patienten in den Tod geschickt zu haben, endete am 23. Mai 1967 nach 57 Verhandlungstagen, an denen über 100 Zeugen vernommen und zehn Sachverständige gehört worden waren.
Ergebnis des Prozesses war, dass alle drei Angeklagten aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurden. Der Vorwurf der Beihilfe zum tausendfachen Mord könne nicht mit der „erforderlichen Sicherheit“ aufrechterhalten werden. Die Angeklagten hätten auch nicht schuldhaft gehandelt, sondern „in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum“. Das Urteil attestierte ihnen, dass sie die Ermordung der Kranken für Sterbehilfe halten konnten, da sie damals unter dem Einfluss der NS-Ideologie gestanden hätten. Die Staatsanwaltschaft hatte gegen Dr. Ullrich acht Jahre, gegen Dr. Bunke sieben und gegen Dr. Endruweit vier Jahre Zuchthaus beantragt.
Dr. Bauers Bilanz konnte in Bezug auf den "Euthanasie-Prozess" verheerender nicht sein. Nur vier Spitzenfunktionäre der „T4“ wurden rechtskräftig zu Freiheitsstrafen verurteilt, und dies auch nur wegen Beihilfe: Vorberg, Allers, Lorent und Becker. Drei Funktionäre und drei „Euthanasie“-Ärzte, Dr. Hefelmann, Dr. Bohne, Kaufmann sowie Dr. Renno, Dr. Endruweit und Dr. Schumann, schieden wegen Verhandlungsunfähigkeit vorzeitig aus den Verfahren aus. Vier Ärzte wurden wegen fehlenden Unrechtsbewusstseins freigesprochen, Dr. Borm sogar rechtskräftig mit Bestätigung durch den BGH. Zu Lebzeiten Fritz Bauers erging nur ein Urteilsspruch gegen die „T4“-Funktionäre und Organisatoren: der Freispruch für Dr. Ullrich, Dr. Bunke und Dr. Endruweit.
Der BGH hob diese Entscheidung auf, doch musste der nächste Prozess abgebrochen werden: „Die Ärzte waren erkrankt, so schwer, daß sie trotzdem ihre Patienten weiter behandelten.“ Diese „erfolgreich praktizierte Verhandlungsunfähigkeit“ dauerte von 1972 bis 1985.
Im Revisionsverfahren 1987 - Fritz Bauer war nun fast 20 Jahre tot - als zwei der Ärzte überraschenderweise wieder verhandlungsfähig waren, konnte das Frankfurter Landgericht Dr. Ullrich und Dr. Bunke wegen Beihilfe zum Mord – Ullrich in mindestens 4500, Bunke in 11.000 Fällen – zu je vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilen.
Der BGH setzte allerdings anderthalb Jahre später das Strafmaß auf die Mindeststrafe herab: man habe, so die Begründung, den Angeklagten eine zu große Anzahl von Tatbeteiligungen zugerechnet, auch Ermordungen, die in Abwesenheit stattfanden. Bis zuletzt war es bei solcher Rechtsprechung geblieben.
Sie ging davon aus, dass die Angeklagten vor lauter Autoritäts- und Staatsgläubigkeit sowie ideologischer Verblendung einem entschuldbaren Verbotsirrtum erlegen waren und das Unrecht nicht erkennen konnten, obgleich sie allesamt Juristen, Ärzte oder Kaufleute, insofern nicht ungebildet waren. Im Übrigen wurden sie ohnehin nicht als Täter, sondern allenfalls als Gehilfen betrachtet und hatten schon deshalb keine härtere Strafe zu erwarten. Eigener Täterwille lag nach Ansicht der Gerichte nicht vor: Die Angeklagten hatten ja nur den Willen der Staatsführung ausgeführt.
.....................................................
Weitere Infos auf der Seite "NS-Ärzte-/Euthanasie-Prozesse"
.....................................................
Die Wojewodschafts-Anstalt für Psychiatrie Dziekanka (dann Gauheilanstalt Tiegenhof - Bezeichnung so durch die deutschen Besatzer) in der Nähe von Gniezno (damals deutsche Bezeichnung Gnesen) hat sich ab dem 11.09.1939 bis zum 21.01.1945 unter ihrem damaligen Direktor Dr.Victor Ratka rasch zu einer Tötungsanstalt entwickelt.
Dr. Ratka hat sofort nach Besetzung durch die deutschen Truppen mit den deutschen Okkupanten in allen Beziehungen kooperiert bzw. kolaboriert. So wurde er als Direktor übernommen, während andere polnische Anstalten nach der Besetzung deutsche Ärzte zum Chefarzt/Dirktor benannten. Er erwies sich als williger - ja eifriger Gehilfe bei den Tötungsaktionen der deutschen Besatzungskräfte - zunächst der polnischen Anstaltsinsassen per Gaswagen, die er persönlich Tag für Tag auswählte - und dann der "aus Luftschutzgründen evakuierten" deutschen Verlegungspatienten aus dem Reichsgebiet als neue "Sonderaufgabe", wie man die dezentral organisierten "wilden" Massentötungen zynisch bezeichnete, zu denen dann Ende 1943/Anfang 1944 Erna Kronshage gezählt werden muss.
1941 bis 1943 wurde Dr. Ratka mehrfach als T4-Gutachter nach Berlin einbestellt, wo er dann späterhin nach Aussetzung der "Aktion T4" hauptsächlich zur Selektionsauswahl bei sogenannten "asozialen KZ-Häftlingen" im Rahmen der "Aktion 14f13" u.a. in Dachau mitwirkte - und hierzu die Anstalt Tiegenhof zur "Zentrale" organisierte. Seine Vertretung bei Abwesenheit übernahm zuerst der Baltendeutsche Dr. Wladimir Nikolajew von Mai 1940 bis Juni 1942 (Quelle: Ernst Klee) - ehe dann Dr. Ratka auf seinen Chefarzt-Sessel in Tiegenhof zurückkehrte und von Dr. Wahrhold Ortleb in den Jahren 1942/43 vertreten wurde (Quelle: Ernst Klee).
Als Gipfel des Zynismus der deutschen Besatzer:
Für seine zweifelhaften "Besonderen Verdienste" wurde Dr. Ratka sogar für die "Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes II. Klasse" ernsthaft vorgeschlagen (ebenso wie später Dr. Walter Kipper, Leiter der "Kinderfachabteilung" in Tiegenhof und Organisator der sogen. "wilden Tötungen", wegen "erbbiologischen wichtigen Sonderaufgaben an hervorragender Stelle", Dr. Nikolajew und der Oberpfleger Wilhelm Jobst):
Text: "Dr. Ratka steht seit dem 26.10.1939 in den Diensten der Gauselbstverwaltung. Er hat sich bei dem Aufbau der deutschen Verwaltung als Direktor der Gauheilanstalt Tiegenhof, mit deren Leitung er seit dem Einmarsch der deutschen Truppen beauftragt wurde in hervorragender Weise beteiligt. Er ist wegen besonderer Verdienste in Vorschlag gebracht von der Kanzlei des Führers."
Vor Herbst 1939 war Dziekanka eine modern arbeitende polnische Anstalt der Wojewodschaft/des Bezirkes Posen/Poznan nach den damals dort vorherrschenden Standards.
Nach Einzug der deutschen Besatzer wurden zunächst die polnischen Insassen mittels „Gaswagen“ vernichtet, die zur Tarnung die harmlose Aufschrift "Kaisers Kaffee-Geschäft" trugen (ca.1.100 Patienten).
Das "Sonderkommando Lange" benutzte dazu einen Lieferwagen - eben mit der "Tarn"-Beschriftung "Kaiser's Kaffee". In dieser fahrbaren Gaskammer wurden geistig Behinderte aus dem Warthegau, Danzig, Ostpreußen und Pommern getötet. Die Mörder benutzten Kohlenmonoxid-Gas aus Gasflaschen. Diese Methode wurde später auch in den Gaskammern der Aktion T4 (NS-"Euthanasie") angewandt.
Als nächstes wurden dann die „aus Luftschutzgründen“ evakuierten Patienten aus den deutschen Landen — und zum Schluss des Krieges Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge, zumeist aus dem Osten umgebracht — nach Angaben der Klinik Dziekanka auf ihrer heutigen Homepage:
Übersetzung von Polnisch in Deutsch:
Die Zeit der Nazi-Okkupation 11.09.1939-21.01.1945
Dies ist eine einzigartige und tragische Periode in der Geschichte unseres Krankenhauses. Der Krankenhaus-Direktor war Dr. Victor
Ratka, der unmittelbar im Anschluß an die Invasion der Nazi-Truppen die deutsche Staatsbürgerschaft annahm und sich völlig veränderte in seiner Haltung zu den bestehenden Kollegen - Ärzten, anderes
Krankenhauspersonal und Patienten.
Ratka fing an, nur in Deutsch zu sprechen und die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer, vor allem Ärzte, Krankenschwestern und Verwaltungspersonal, wurde aus dem Krankenhaus entlassen, und zum Teil
mit ihren Familien deportiert ins Generalgouvernement. Ersetzt wurden sie durch deutsche Arbeiter.
Von Beginn der Besetzung wurde das Krankenhaus ein Ort der Nazi-Politik, ein Ort der Vernichtung der psychisch Kranken, in Übereinstimmung mit der Anweisung zum Patientenmord durch Hitler.
Ausgewählte Patienten wurde eine Intoxikation mit Chloral Scopolamin verabreicht, dann ins Auto geladen mit verschließbaren Behältern, damit die Abgase, die ins Auto geleitet wurden, nicht gesehen
wurden. Auf diese Weise vergast wurden anfangs Patienten in den Wäldern in einem Abstand von ca. 30-35 km von Gniezno. Die Gräber der Opfer dieser bestialischen Morde wurden leider bis jetzt nicht
gefunden.
Spätere Vernichtungsaktionen fanden auch mit unbekannten Chemikalien statt. Insgesamt getötet wurden während der Besetzung des örtlichen Krankenhauses 3586 [inWorten:
dreitausendfünfhundertsechsundachtzig] Patienten - Polen, Deutsche und Patienten anderer Nationalitäten.
Dr. Victor Ratka (Tiegenhof) gehörte zum ausgesuchten und "bewährten" "InnerCircle" der T4-Mordärzte, war er doch bei allen einschlägigen Planungen und Unterredungen immer aktiv beteiligt.
..................................................................
Situation in der Tötungsanstalt Tiegenhof unter dem Chefarzt Dr. Ratka - belegt durch Zeugenaussagen:
Zitat aus dem Buch: Wunder, Genkel, Jenner: Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr - Die Alsterdorfer Anstalten im
Nationalsozialismus, Hamburg 1987, Seite 184 ff:
"Nachdem die früheren Insassen fast alle weggemordet waren, übernahm die „Gau-Heilanstalt Tiegenhof" ab Mitte 1941 die Funktion einer
Tötungsanstalt für Anstaltsinsassen, die aus dem nördlichen Reichsgebiet antransportiert wurden. Die Methoden waren Verhungernlassen und/oder Verabreichen von überdosierten Medikamenten wie Luminal,
Skopolamin und Chloralhydrat. Die Medikamente wurden teilweise durch Spritzen injiziert oder durch Klistiere eingeführt, zum Teil auch in der Nahrung aufgelöst. Vom Anstaltspersonal wurde bei
letzterer Methode von der „gelben Suppe" gesprochen. Auf diese Art und Weise sind im Tiegenhof noch einmal mindestens 1200 Menschen in den Jahren ab 1941 ermordet worden.
Die ab 14. November 1941 eintreffenden Hamburger Sammeltransporte gehörten mit zu den ersten neuen Opfern im Tiegenhof. Die Frauen wurden in Pavillon 5 untergebracht, die Männer in Pavillon 6. Beide Pavillons enthielten separate Tötungszimmer, in denen den wehrlosen und entkräfteten Opfern die Injektionen gegeben wurden oder die „gelbe Suppe" eingeflößt wurde.
Aus den späteren Aussagen einiger Familienangehöriger, die Besuche im Tiegenhof unternommen hatten, wissen wir, was die Opfer vor ihrer Tötung dort durchlitten haben müssen.
Die Mutter von Rolf Hink berichtete beim Ermittlungsverfahren gegen Pastor Lensch Ende der 60er Jahre, daß sie Pfingsten 1942 ihren Sohn täglich zweimal im Tiegenhof besucht habe. Er sei zu einem Skelett abgemagert gewesen. An den Beinen habe er große, offene Wunden gehabt. Sie habe festgestellt, daß alle Pfleglinge ärztlich ungenügend betreut waren. Die gleiche Beobachtung habe sie bei vielen anderen ehemaligen Pfleglingen der Alsterdorfer Anstalten gemacht, die sie im Tiegenhof wiedererkannt hatte. Diese Pfleglinge hätten alle jämmerlich und heruntergekommen ausgesehen. Ihr Sohn und andere Pfleglinge hätten ihr gegenüber geklagt, daß es täglich lediglich Sauerkohl und eine Art Wassersuppe zu essen gegeben habe. Im August 1942 sei sie nach einer Mitteilung der Anstalt, daß ihr Sohn schwer erkrankt sei, wiederum nach Tiegenhof gefahren. Sie sei dort an sein Bett vorgelassen worden, ihr Sohn sei aber nicht mehr ansprechbar gewesen. Sie habe dort den ganzen Tag über gesessen. Der Stationsarzt, den sie gefragt habe, ob ihr Sohn noch einmal das Bewußtsein erlangen werde, habe zu ihr wörtlich gesagt: „Er ist fällig." Während sie am Bett gesessen habe, sei ihr aufgefallen, daß er stark nach Morphium gerochen habe. Sie habe den Eindruck gehabt, daß man ihren Sohn wie auch die anderen bewußt verhungern ließ. [Zeugenaussage Hink, Vernehmungen zum Verfahren 147 Js 58/67, Band II Blatt 204 ff.] Rolf Hink starb am 7. 8. 1942 im Tiegenhof. Als Todesursache wurde „Fieberhafter Darmkatarrh" angegeben.
Auch die spätere Aussage des Vaters von Herbert Barkmann beschreibt die ungeheuerlichen Zustände im Tiegenhof. Seine Frau besuchte dort den Sohn im Februar 1942. Sie habe feststellen können, daß der Junge völlig unzureichend ernährt gewesen sei. Mittags hätten die Pfleglinge Wassersuppe und zum Abendbrot zwei Scheiben trockenes Brot sowie Pellkartoffeln erhalten, die aus der Hand des Pflegers auf die Scheiben Brot gequetscht wurden. Die Pfleglinge seien wie Vieh gefüttert worden. Seine Frau sei von den Verhältnissen im Tiegenhof völlig erschüttert gewesen. Etwa eine Woche vor Ostern 1941 hätten sie die Nachricht erhalten, daß der Sohn verstorben sei, mit der Anfrage, ob eine Beerdigung im Tiegenhof oder eine Einäscherung in Frankfurt/Oder stattfinden solle. Sie hätten sich entschlossen, ihren Sohn im Tiegenhof beerdigen zu lassen. Er sei nach Tiegenhof gefahren und sei dort am 2. Osterfeiertag 1942 eingetroffen.
Er sei von der Bahn aus direkt zur Leichenhalle gegangen und habe gehofft, dort seinen Sohn zu sehen. In der Halle hätten mehrere Särge gestanden. Er habe einige Deckel abgehoben und in einem Sarg die Leiche seines Sohnes gefunden. Sie hätte auf ihn einen jämmerlichen Eindruck gemacht. Sein Sohn sei bis zum Skelett abgemagert gewesen. An der linken Schläfe habe er deutlich sichtbar einen großen blau-dunklen Fleck gehabt. Auf dem Wege zur Verwaltung habe er den Leitenden Anstaltsarzt, der das Goldene Parteiabzeichen trug, getroffen. Auf die Frage, woran sein Sohn gestorben sei, habe dieser wörtlich gesagt: „... woran sie alle starben". Dabei habe er auf sein Goldenes Parteiabzeichen gepocht. Als er dann in der Verwaltung die Sterbeurkunde und weitere Papiere seines Sohnes in Empfang genommen habe, habe er in der Pförtnerloge, wo er einige Zeit warten mußte, einen großen Karton mit Ampullen gesehen. Ihm sei damals klar gewesen, daß die Pfleglinge im Tiegenhof getötet wurden. Nach seiner Rückkehr habe er dem damaligen Hamburger Reichsstatthalter Karl Kaufmann in einem Brief berichtet, was er im Tiegenhof erlebt hatte. Darauf sei ihm sinngemäß geantwortet worden, er solle den Mund halten, er wisse wohl nicht, daß man sich gegen einen Führerbefehl nicht beschweren dürfe.
[Zeugenaussage Barkmann, Vernehmungen zum Verfahren Az. 147 Js 58/67 gg. [Pastor Friedrich Karl] Lensch und Dr. [Kurt Gerhard] Struve (s.o. - in den Hamburger NS-"Euthanasie"-Durchführungen verstrickt = Langenhorner und Alsterdorfer Anstalten), Band I Blatt 195 ff.]"
Wiktor Ratka - ein ausführlicher Beitrag von 2023 auf einer polnischen Website -
Quelle: https://ocal.historialubliniec.slask.pl/wiktor-ratka/
Handgemachter Photomechanischer Auszug aus einem Aufsatz von
Robert Parzer: "Euthanasie" im besetzten Polen
- zur Person Victor Ratka -
Quelle: Osterloh, Schulte, Steinbacher: "Euthanasieverbrechen im besetzten Europa", Wallstein 2022, S. 166-168 ...
Meine Tante Erna Kronshage wurde in der Vernichtungsanstalt "Tiegenhof" bei Gnesen (Dziekanka-Gniezno - PL) 1944 im Zuge der "Euthanasie"-Phase "Aktion Brandt" ermordet.
2011 hat das MUZEUM MARTYROLOGICZNE W ZABIKOWIE ein Gedenk-VideoFeature mit dem Titel "Tiegenhof" - besonders für die 1.044 polnischen NS-"Euthanasie"-Opfer zu Beginn der Okkupation durch das SS-Sonderkommando Herbert Lange (1939-1941) - fertiggestellt, das die Atmosphäre dieser Vernichtungs-Anstalt zu diesem Zeitpunkt sichtbar machen will - und auch den insgesamt wohl über 5.000 Opfern hier zwischen 1939 und 1945 ein Denkmal setzen will ...
DIE LANCET-KOMMISSION ZU MEDIZIN, NATIONALSOZIALISMUS, UND HOLOCAUST ... 2023