Edward Wieand: ERNA KRONSHAGE . Geboren 1922 - Ermordet 1944 . Mein Lachen ist Weinen . E-Book, umfassende Doku-, Text- & Bild-Collage in 26 Abschnitten - als permanente Blog-Veröffentlichung: click, 2010-2024 ff. 

 

click zur Querflöten-Musik aus 'Schindlers Liste' im Arrangement und gespielt von Heti Schmidt-Wissing zur Gedenksteinlegung am Grab von Erna Kronshage am 10.12.2022

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ERNA  KRONSHAGE 

G E B O R E N  1 9 2 2  .  E R M O R D E T  1 9 4 4

Infos & Spuren  zu Zwangssterilisation  & NS-Euthanasie 

c/o EDWARD WIEAND . über mich . creative part . sinedi@rt

 

 

Geschichten vom EnDE.

 

ich stelle mir das mal so vor ...

 

ein lesebuch rekonstruierter einzel-szenarien:

so könnte es gewesen sein ...

GESCHICHTE(N). LEBEN. ERZÄHLEN.

gestern: heute: morgen:

=  o r a l   h i s t o r y  =

e.book & studien.blog in 26 abschnitten . mein lachen ist weinen .

einweisung. schocktherapie. erbgerichtsverfahren. zwangssterilisation. deportation & ns-eugenik-ermordung - click -

Der Titel »Mein Lachen ist Weinen« ist einer Episode aus der Erbgerichtsverhandlung zur Zwangssterilisation am 29.3.1943 entnommen. Es ist auch das letzte mit der Erbgesundheitsgerichts-Akte (siehe S. 42 in der Kopie) authentisch übermittelte Original-Zitat Ernas und gibt so dem E-Book seinen Namen.

 

 

 

 

 

 

Man kann alles, selbst das Ungeheuerlichste,

beschreiben und benennen,
ohne mehr als eine schwache Ahnung dessen zu vermitteln,
wie das Beschriebene eigentlich gewesen ist.

 

Günter Kunert

 

 

 

Internierung & Deportation                          12

 

 

Die vom Erbgesundheitsobergericht Hamm beschlossene "Unfruchtbarmachung" Erna Kronshages wurde am 4.August 1943 im Krankenhaus Gütersloh durchgeführt - und wie es auf den Entlassungspapieren lapidar vermerkt wird: "die Wunde heilte in 7 Tagen ohne Nebenerscheinungen".

 

Erna Kronshage ist seit Oktober 1942 Patientin der Provinzialheilanstalt Gütersloh - mit der äußerst fragwürdigen ad-hoc-Diagnose "Schizophrenie" ...

 

Da der Vater Erna's wiederholt auf die Entlassung seiner Tochter aus der "Heil"anstalt Gütersloh gedrungen hat, hätte nun - nach der "Unfruchtbarmachung" - eigentlich diesem Entlassungsbegehren entsprochen werden müssen. Der Vater war immer noch der Sorgeberechtigte der noch Minderjährigen, und damit konnte er auch "damals" von Rechts wegen den "Aufenthaltsort" der Tochter "bestimmen".

 

Doch von nun an braut sich lokal über den Köpfen der Beteiligten und Betroffenen geradezu schicksalhaft ein Konglomerat von Bombardierungs-Kriegsereignissen besonders im Ruhrgebiet und den damit begründeten "Schutz"-Verfügungen und Erlassen zusammen, die wohl diese Entlassung dann letztendlich verhindert haben - vielleicht auch verhindern wollten.

 

Denn nun griff per Verordnung aufgrund der Luftschutzpflicht der Paragraph 2 des Reichsluftschutzgesetzes vom 26. Juni 1935 (RGBl. 1935 I S. 827), der bestimmte, dass jeweils für Katastrophen- und Luftkriegsfälle ausreichende Kapazitäten in den nahegelegenen nicht unmittelbar betroffenen Heil- und Pflegeanstalten bereitzustellen sind.

 

2. Weltkrieg, Lazarett in Heidelberg: DRK-Schwesternhelferin versorgt einen Verwundeten am Krankenbett - akg

 

 

Dies sollte einerseits durch dichtere Belegung und Notbetten und andererseits durch das "Verlegen", der Deportation geisteskranker Patienten aus überfüllten Anstalten in weniger gefährdete Landesteile erreicht werden. Bereits im Vorfeld wurden die einzelnen Heil- und Pflegeanstalten aufgefordert, die hierzu in Betracht kommenden Patienten entsprechend ihrer Leistungs- und Arbeitsfähigkeit aufzulisten.

  • Hier stand Erna Kronshage dann wahrscheinlich mit auf irgendeiner solchen Liste, obwohl sogar der Anstaltsleiter Dr. Hartwich in einer Notiz in der Erbgesundheitsakte ihr bescheinigte, "sie arbeite doch auch ganz fleißig".
  • Oder aber das von ihr belegte Bett stand in einem für ein solches Ansinnen primär infragekommenden Gebäudetrakt der Provinzialheilanstalt.

So stellten auf alle Fälle die für Luftkriegsopfer und Reserve- bzw. Ersatz- und Not-Lazarettkrankenhäuser vorgesehenen Kapazitäten implizit für die "Entscheider" in den NS-Behörden eine Gelegenheit dar, die zentral in der Tiergartenstraße 4 in Berlin gesteuerten und 1941 unterbrochenen mit „T4“ bezeichneten Euthanasie-Mordaktionen wieder in großem Maßstab erneut aber anders aufleben zu lassen.

 

Die nach außen dargestellten Gründe verschleierten die dahinterstehenden perfiden Absichten, nämlich die Kranken kurzerhand zu töten, die aus welchen Einzelerwägungen auch immer "dem Allgemeinwohl" jetzt im Augenblick und auch weiterhin im Wege waren. 

 

 Im Gegensatz zur Aktion T4 gab es jetzt also keine differenzierenden Selektionskriterien mehr, so dass eine Begutachtung durch Ärzte und zentrale Tötungslisten entfallen konnten. Die Auswahl der Opfer wurde zudem gänzlich der Leitung der Abgabeanstalten überlassen. Ausschlaggebend für die Zahl der zu verlegenden und damit zu tötenden Patienten waren nur noch die Arbeitsfähigkeit der Kranken, und der als Folge eines Luftangriffes prognostizierte Bettenbedarf.

 

Interne Organisatoren bezeichnen das mit dem Töten von Psychiatriepatienten verbundene Sichern der Krankenbettversorgung dann als „Aktion Brandt“, wie man diesen speziellen Komplex später dann als eine der nach 1941 dezentral durchgeführten Euthanasie-Mordphasen auch insgesamt betitelt  und gekennzeichnet hat.

 

Man hätte ja vor Ort gerade jetzt auch mit einer Entlassung Erna Kronshages aus der Anstalt das von ihr belegte Bett frei machen können, um es so den vorgegebenen Lazarett-Krankenhausbedarfen mit hinzuzuführen.

 

Doch Anfang 1943 wurde der Ministerialdirektor Fritz Cropp als Leiter der Gesundheitsabteilung des Reichsinnenministeriums von Staatssekretär Conti zum „Generalreferenten für Luftkriegsschäden“ ernannt. Damit war er für die katastrophenmedizinische Versorgung der Zivilbevölkerung verantwortlich. Er ließ sich ab Juni 1943 monatlich die zivilen Krankenhausbetten, die Zahl der durch Luftangriffe zerstörten Krankenhäuser und die Zahl der zum Ausgleich verlegten Geisteskranken melden.

 

Bereits einen Monat vorher schon drängte sein Untergebener Linden darauf, die bereits in der Aktion T4 bewährten Psychiater bei diversen Heil- und Pflegeanstalten in leitenden Positionen unterzubringen. Da diese Anstalten jedoch in die Trägerschaft der Länder fielen, musste seinem Ersuchen der Hinweis auf "neue Maßnahmen", die von der „Reichsarbeitsgemeinschaft der Heil- und Pflegeanstalten“ (einer Tarnorganisation der Kanzlei des Führers zur Durchführung der „Euthanasie“) durchzuführen wären, den nötigen Nachdruck verschaffen.

 

In einem Schreiben vom 4. April 1943 an die Medizinalverwaltung der Provinz Hannover kündigte Linden sogar unumwunden an:

 

„Ich glaube bestimmt, daß die von der Reichsarbeitsgemeinschaft durchgeführten Maßnahmen [Einschub: gemeint sind schlechthin die "T 4"-Krankenmorde"] zur gegebenen Zeit wieder aufleben werden, wobei vielleicht die Art der Durchführung eine andere sein wird, insbesondere es vielleicht nötig werden wird, die öffentlichen Heil- und Pflegeanstalten in größerem Umfange in den Vollzug der Maßnahmen einzuschalten. Gerade dann aber wäre das Vorhandensein eines diese Maßnahmen unbedingt bejahenden Direktors von außerordentlicher Wichtigkeit.“ 

 

Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass zu diesem Zeitpunkt anscheinend grundlegend entschieden worden war, die künftige Phase der weiteren „Euthanasie“-Morde nicht mehr wie bisher zentral in den Gaskammern der bisherigen Tötungsanstalten durchzuführen, sondern dezentral in dazu neu organisatorisch ausstaffierten Heil- und Pflegeanstalten vor Ort oder auch zur Verschleierung in den besetzten Anstalten im Osten.

 

Zu den bekanntesten Aufnahme- und damit auch Tötungsanstalten des neuen Typs gehörte dann auch die "Gauheilanstalt Tiegenhof" bei Gnesen im damals besetzten Polen.

 

Auffällig ist im Zusammenhang mit der „Aktion Brandt“ als neue Welle einer zumindest implizit mitgedachten und immer noch von den Abläufen her zentral gesteuerten und lokal namentlich bestimmten Ermordung psychisch kranker Menschen zunächst die hohe Zahl der Verlegungen im Jahr 1943.

 

Hatten 1941 insgesamt 541 Kranke - davon 350 Patienten im direkten Zusammenhang mit der Aktion T4 - die Anstalt Gütersloh verlassen, sinkt die Zahl im Jahr 1942 auf "nur" 52 Verlegungen. 1943 steigt die Zahl der verlegten Patienten schlagartig auf 712 an. 649 dieser 712 Gütersloher Kranken wurden in diese weiter östlich gelegenen Vernichtungsanstalten transportiert.

 

Den ersten Hinweis auf geplante Deportationen und Internierungen der vorhandenen Patienten in den unausweichlichen Tod enthielt dazu die Abschrift des Runderlasses IVg 8958/43–5100 des Reichsministeriums des Innern an den Regierungspräsidenten in Minden bereits vom 11. Mai 1943:

 

"Betr.: Verlegung von Insassen der Heil- und Pflegeanstalten aus luftbedrohten Gebieten.

 

Z.Zt. werden in größerem Umfange Verlegungen von Geisteskranken aus luftgefährdeten Gebiete in andere Anstalten durchgeführt. Wie bisherige Erfahrungen gezeigt haben, suchen Angehörige die Verlegung von Kranken dadurch zu vermeiden, daß sie sie auch gegen ärztlichen Rat nach Hause nehmen. Nach kurzer Zeit werden dann die Kranken der Anstalt wieder übergeben.

 

So sehr die Entlassung von Geisteskranken aus der Anstalt erwünscht ist, sobald ihr Geisteszustand dies zuläßt, so führen doch zu frühzeitige Entlassungen gerade in luftgefährdeten Gebieten zu unerwünschten Zuständen. Der Aufenthalt geistig anbrüchiger Personen in Luftschutzräumen usw. kann sehr leicht zu Unzuträglichkeiten führen, da sie in ihrem Verhalten unberechenbar sind. Wird die Entlassung seitens der Angehörigen erst nach der Verlegung erwirkt, der Kranke also wieder in das luftgefährdete Gebiet zurückgebracht und dort nach kurzer Zeit wieder in die Anstaltsbehandlung gegeben, so ist die ganze Verlegung umsonst gewesen.

 

Ich ersuche daher, Geisteskranke aus luftgefährdeten Gebieten - sei es vor, sei es nach der Verlegung - nur zu entlassen, wenn sie als geheilt anzusehen sind oder mindestens zu erwarten ist, daß sie sich längere Zeit in Freiheit halten werden.

 

[Man denke an die Eingaben vom Vater Adolf Kronshage zur baldigen Entlassung von Erna im Zuge des Zwangssterilisierungs-Verfahrens - aber nun - nach der Sterilisierung - bestand eigentlich kein gesetzlich notwendiger Grund mehr, die immer noch bestehenden Ersuchen des Vaters abzulehnen ...] - und so heißt es auch weiter:  

 

 Gegebenenfalls ist die Entlassung zu verweigern.

 

Bei Geisteskranken, die aufgrund der im Einzelfall gegebenen gesetzlichen Voraussetzungen (z. B. polizeiliche Einweisung wegen Gemeingefährlichkeit usw.) zwangsweise in der Anstalt zurückbehalten werden können, besteht ohne weiteres die Grundlage für die Ablehnung von Entlassungsgesuchen. In Ermangelung einer solchen Grundlage wird der Anstaltsleiter die für den Bereich der Anstalt geltenden landesrechtlichen Bestimmungen über die zwangsweise Zurückbehaltung von Geisteskranken in geschlossenen Anstalten zur Anwendung bringen müssen. Falls notwendig wird hierbei auch die Mithilfe der Polizei in Anspruch zu nehmen sein."  

 

Reichsministerium des Inneren 

gez. i. A. Dr. [med. Fritz] Cropp

 

 Abschrift in der Original-Kopie = click hier & hier


Mit diesem ministeriellen Erlass wird eine anstehende Entlassung massiv eingeschränkt - und für Erna entpuppt sich das somit zu einer Internierung - einem Freiheitsentzug durch die "bürokratisch" veranlasste Ignorierung der väterlichen Entlassungsgesuche.

 

Die konkreten Vorbereitungen für die Durchführung dieser neuen Deportations-Transporte beginnen dann konkret im September 1943.

 

Auf Anweisung des Provinzialverbandes werden alle Patienten der Provinzialheilanstalt Gütersloh dazu anhand von Melde- und Beurteilungsbögen erfasst - wobei damals schon das jeweilig abgestufte "Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung" (wie heutzutage dieser Terminus apostrophiert wird) - bei der das jeweilige Leistungsvermögen der Patienten zu Einordnung und Beurteilung in eine von drei Leistungs-Gruppen führt - (ähnlich wie noch heute im SGB IX, § 136,2, wo explizit die Aufnahmekriterien in eine Werkstatt für behinderte Menschen|WfbM nach immer noch ähnlich definierten 3 Leistungsgruppen bewertet werden ...) und so ausschlaggebend ist für den zumeist "finalen" Entscheid:

  • entweder "In-der-angestammten-Einrichtung-Verbleiben" [Daumen hoch = Leben]
  •  oder aber für "Abtransport"/"Verlegung" [Daumen runter = Tod] in eine der zumeist östlich gelegenen "Evakuierungs"-Anstalten  ...

An diesem Punkt hätten alle Beteiligten hellhörig werden können, die nach dem Krieg so ahnungslos taten, als hätten sie nichts davon gewusst oder auch nur geahnt, dass die aufnehmenden "Evakuierungs"-Anstalten in den besetzten östlichen Gebieten eigentlich als reine Abschiebungs- und Tötungsinstitutionen den dezentral abgewickelten "Euthanasie"-Aktionen der "Sonderaktion Brandt" dienten - denn nun wurde offensichtlich, dass sich die pure und ausgesucht zugeordnet gewollte Aufnahme aller leistungsmäßig minderbemittelten Patienten kriegs- und volkswirtschaftlich "ökonomisch" nicht plausibel rechnen ließ: Man hätte auf Dauer einen viel höheren Personalschlüssel zur Pflege und Betreuung benötigt und eine immense Ausweitung der jeweilig vorhandenen Belegungskapazität - da ja an die angeblich personalreduzierende "aktivierende Behandlungspflege" nach Hermann Simon, Gütersloh, mit Arbeitstherapie und Gartenkolonne bzw. Viehversorgung oder festen Leistungs- und Aufgabenzuweisungen bei einem solchen bewusst "niedergeführten" Leistungsstand gar nicht mehr zu denken war !!!

 

Also stellte man folgerichtig diese laufend eintreffenden Deportierten in den Aufnahmeanstalten rasch und "nachhaltig" im weitesten Sinne "ruhig"...

 

Ein weiterer eindeutiger Gesichtspunkt für die Fortführung der "Euthanasie" auch nach 1941 war die erneute punktgenaue Durchführung dieser zentral geplanten "Evakuierungs"-Deportationstransporte und das sonstige umfassende Know-How durch die Gekrat, der "Gemeinnützigen Krankentransport GmbH", einer Tarnorganisation der Zentrale Tiergartenstraße 4 - "T 4", die bereits die Krankentransporte zwischen 1939 und 1941 für die erste Welle der NS-"Euthanasie" zentral bis aufs I-Tüpfelchen genau organisiert hatte (Stichwort: "Graue Busse")...

 

 

Foto aus: Stefan Lechner, Die Absiedlung der Schwachen in das „Dritte Reich“, Innsbruck, Universitätsverlag Wagner 2016.

 

 

Erna Kronshage sitzt nun mit diesen Verstrickungen und Erlassen in einer unausweichlichen Todesfalle: Zum 12. November 1943 wurde ihre Deportation in die NS-Tötungsanstalt "Tiegenhof" bei Gnesen durchgeführt und mit diesem Schreiben vom 28.10.1943 der "Gekrat" an die Anstalt Gütersloh minutiös vorgeplant:

 

"Sehr geehrter Herr Direktor Hartwich! 

 

Zum Abtransport Ihrer Kranken hat mir die Reichsbahndirektion für den 12. November einen Sonderzug zusammengestellt. Es gehen am 12.11.43 fünfzig Kranke nach Meseritz, fünfzig Männer und fünfzig Frauen nach Gnesen und hundert Frauen und vierzig Männer nach Warta b. Schieratz. 

 

Der Sonderzug läuft bis Posen und wird dort aufgeteilt. Er geht abends um ca. achtzehn Uhr in Hamm ab. Ich werde noch versuchen, den Zug in Gütersloh abfertigen zu lassen, ob es möglich ist, weiß ich noch nicht. Genauere Nachrichten übermittle ich Ihnen noch telefonisch, am Termin ändert sich nichts mehr. Die restlichen fünfzehn Kranken für Bernburg werden im Laufe des Novembers, nach vorheriger Verständigung mit Ihnen abgeholt und per Autobus nach Bernburg gebracht. 

 

Heil Hitler! 
gez. Sawall."

 

 Abschrift in der Original-Kopie = click hier

 

Erna Kronshage wurde in der Vernichtungsanstalt "Tiegenhof" bei Gnesen nach 100 Tagen Aufenthalt ermordet. 

click zu YouTube

Doku-Video: Die Deutsche Bahn und die Nazis

Ich habe diese YouTube-Video-Verlinkung ebenfalls neu auf die Seite "Deportation" übernommen.

Nachdem Erna am 20.2.1944 wohl durch tagelange Hungerkost und Babiturat-Übermedikationen ermordet wird, wird ihre Leiche im Sarg auf Antrag und Rechnung der Eltern über 650 Reichsbahnkilometer punktgenau auf ein Rangiergleis des Bahnhofs Kracks in Senne II direkt am Elternhaus in 8 bis 10 Kalendertagen in einem Reichsbahn-Packwagen rücküberführt ( - lies hier Story 9) ...

Der Sonderzug läuft bis Posen      11

 

Ein Beitrag hier muss doch auch den (vor)letzten quietschenden Abrutsch auf der abwärts glitschigen Bahn nach unten ins schwarze Nichts zum Thema haben.

 

Die Fahrt zur Deportation von Gütersloh - wahrscheinlich über Hannover - Berlin - Frankfurt/Oder - nach Posen - und dann das Umsteigen in den Bus oder das Warten im Zugabteil, bis eine kleinere Rangierlok vielleicht die "50 Männer und 50 Frauen" nach Gnesen bringt - zur "Verlegung" - zur "Verlegung aus Luftschutzgründen" - wie das offiziell genannt wurde.


Ich hatte da schon mal ein paar Anläufe genommen, um etwas Gescheites und trotzdem leidvoll Emotionales dazu auszudrücken - und ich starre dazu auf die weiße Schreibfläche, die sich nur mühsam und unangemessen mit wenig sinnstiftenden Buchstabenabfolgen befüllt. Muss Trostlosigkeit noch extra aufgeplustert

werden ...?

 

Es ist doch nur diese verdammte Sinnlosigkeit, die sich hier zu einem schwarzen Nichts verflüchtigt, in einem stickig vor sich hin brütenden geronnenen Szenario: im Untergrund stundenlang begleitet von diesen gleichbleibend impulshaften stakkatoartigen Abrollgeräuschen der Waggonräder im Takt der holprigen Schienenstöße, durchsetzt und begleitet von einem leis vor sich hin rauschenden mehrtönigen Tinnitus aus dem Off.


Zwischen all den Gestalten, die da unnatürlich und halbliegend vor sich hin ruckelnd verharrten, sehe ich schlecht lackierte gelb-beige abgewetzte Holzbänke , in die gelangweilte oder verzweifelte vorab beförderte Fahrgäste ihre Spuren eingeritzt hatten - Wortfetzen, Schreibkleckse, Ritzen, Furchen - mit Taschenmesser, Korkenzieher und Fingernagel - manchmal mit Tinte nachgezogen - als kaum noch deutbare Hieroglyphen und Botschaften - als Vermächtnis und letztes Zeugnis - vielleicht.


Und diese Fahrt jetzt dauerte. Mindestens 8 bis 9 bis 10 Stunden und noch länger - die ganze Nacht durch - und auch in Posen - und wahrscheinlich noch auf dem Bahnhof Gnesen - war es jeweils stockdunkel, mit kleinen schmutzigrot blinkenden Lichtklecksen. Schneefall vielleicht - keine Ahnung - aber ansonsten stockdunkle vorbeihuschende Nacht, schon aus Luftschutzgründen wurde alles nach außen hin vertuscht. Ab und zu flog ein rot-gelb-weiß glühender Funke oder eine kleine Funkel-Kaskade aus der Dampflok am Fenster vorbei, was aber nur wahrgenommen werden konnte, wenn man die beschlagene Abteilscheibe mit dem Ärmel abgewischt hatte, um in die schwarzblau-qualmende wattierte Nacht zu starren.


Ob Erna da manchmal in all den Stunden versuchte, etwas zu sehen, weiß ich nicht. 
Vielleicht hatte man ihnen allen noch in Gütersloh eine ausreichend anhaltende Portion Schlafmittel verabreicht, um dann damit den ganzen Weg klaglos vor sich hinzudämmern - und nur die trotzdem besonders Aufgeweckten und Nervösen schwankten ab und zu durch das Abteil - vielleicht zum abgeteilten stinkenden Plumpsklo am Ende des Abteils.


In den Abteilen wabberte eine stickig heiße feuchte Luft, mit allerlei menschlichen Ausdünstungen beschwängert. Die Zugbegleitung, ein paar rigoros zupackende NSV-Schwestern und Zugbegleiter von der "Gemeinnützigen Kranken-Transport-G.m.b.H." oder der Reichsbahn, hatten sich in ihrem "Zugführer"-Extra-Abteil zurückgezogen. Sie schliefen, spielten Karten, quatschten leise miteinander - und sprachen sich ab, wer denn den nächsten vorgeschriebenen Kontrollgang durch die Abteile zu machen hatte.

 

Ich denke schon, dass auch Erna mit verabreichten Medikamenten ruhiggestellt und ihr inneres Licht auf Sparflamme heruntergedimmt worden war. Sie hatte sich dem ganzen Prozedere letztlich willenlos zu ergeben - schon in Gütersloh. Ihr anfänglicher Widerstand gegen diese plötzliche "Verlegung", diese Deportation ins unbekannte Nirgendwo, war rasch in sich zusammengebrochen - als sie spürte, wie sinnlos ein Aufbäumen gewesen wäre - und wie kraft- und energielos sie war - es war ihr plötzlich egal, je mehr sie wegdöste ...


Und eine Mitpatientin hatte ihr noch in Gütersloh zugeraunt: ein Zurück gebe es jetzt nicht mehr - "von nun an geht's bergab - wirst's schon sehen - Schluss - Aus". Sie kicherte - und meinte: "Aber da hast du es wenigstens geschafft - ich muss morgen früh wieder in die Kartoffelschälküche - und hör mir wieder das alte wirre Gezanke und Gekeife dort unten an - bis zum nächsten Fliegeralarm - immer weiter - immer weiter" ...

 

Und deshalb bietet diese letzte lange einzige Reise Ernas "in die Fremde" auch nicht mehr an Dramatik und Handlung ... und endet mit quietschend dampfend-stampfenden Lok- und Waggonrädern auf einem Bahnsteiggleis ...

 

Erna selbst erlebte diese angesetzten Anfallsserien sicherlich als... 

Schockierende Schocktherapien                   10

Um die quälenden im doppelten Sinn "schockierenden" Torturen Erna Kronshages in etwa nachvollziehen zu können, ist eine umfassende Information zu der in Gütersloh "verabreichten" Cardialzol-Schockbehandlung auch in diesem "Lesebuch" unerlässlich. 

 

Eine solche Information ist weniger als eine Geschichte, weniger als eine Erzählung zu gestalten, sondern eher als Dokumentation und Faktensammlung mit allgemein zugänglichen Belegen.

 

Erna selbst erlebte diese angesetzten Anfallsserien sicherlich als schockierend tiefgreifende, furchtbare Eingriffe. Sie konnte sicherlich kaum nachempfinden, was da und warum mit ihr geschah - und man erklärte ihr diese Maßnahmen sicherlich kaum - oder so, dass sie es nicht verstand - und es auch nicht verstehen wollte..

 

Die Schwestern meinten: "Das ist gut für dich. Das hat der Doktor angeordnet."

 

Wie sie auf einer lederbezogenen Pritsche fixiert wurde und man ihr die Injektionsnadel der Spritze in die Armbeuge stach - und wie dann nach kurzer Zeit Farbillusionen und Lichtblitze vor ihrem "inneren Auge" zerplatzten, eigenartige Geruchsempfindungen und diffuse Schmerzsensationen auftraten, ehe sie immer müder und schlapper wurde, um dann in eine tiefe Bewusstlosigkeit zu fallen - und der helle Tag eine schwarze Nacht wurde, nachdem sie im Wegsacken der Sinne noch Körperzuckungen, Zittern, und ein Aufbäumen verspürt hatte.

 

Tief benommen wachte sie danach mit hämmernden Kopfschmerz und Blutergüssen am ganzen Körper wieder auf - und hatte wahrscheinlich einen klebrig-trockenen Mund - oder kaute noch immer auf eine Rolle Verbandsgaze, die man ihr in den Mund geschoben hatte, um einen Zungenbiss zu verhindern... Und das sollte sich noch einige Male wiederholen:

 

"Warte mal ab, dich kriegen wir auch noch ruhiger ...", meinte eine der Schwestern.

 

 

Nach 

Nach MENG Jin & FANG Er, China: Zimmer mit Aussicht, 1999-2002, photo-edition 3/6 - Schlafsaal-Situation
 
 

Eine Eintragung im Ärztlichen Gutachten des Behandelnden Arztes zur "Unfruchtbarmachung" von Erna Kronshage über die "aktive" Heilbehandlung mit Cardiazol-Krämpfen lautet:

 

"Nach Cardiazolbehandlung etwas ruhiger" - und -"schon nach einmaligen Aussetzen der Behandlung wieder sofort unruhig, fast ständig in motorischer Erregung" - nachts -"lautes sinnloses Reden..., zuckt dabei mit den Händen und mit dem Kopf"...

 
Bildbearbeitung nach einem Foto von papilot.pl
 
Der Cardiazolschock 
 
war bei den Patienten besonders gefürchtet. Der von Ladislaus Joseph von Meduna erfundene Cardiazol- oder Metrazolschock, der unter den Psychiatern der damaligen Zeit mit in den Katalog einer modernen "aktiven" Krankenbehandlungen jener Zeit gezählt wurde, trat neben Arbeitstherapie und Insulinschocks, und später den Elektroschocks. Die Patienten erlebten bei diesen Behandlungen mit synthetischem Kampfer jeweils Todesängste.
 

Aus einer einschlägigen Fachliteratur jener Zeit: 


"Nach der Injektion blieb die Patientin zunächst einige Minuten ruhig liegen, wurde dann innerlich etwas unruhig und bekam einige Zuckungen im Gesicht. Zum Sprechen war sie nicht zu bewegen; man hatte jedoch den Eindruck, dass sie etwas Unangenehmes erlebte. Nach ½ Stunde setzte sie sich plötzlich im Bett auf, bekam einen sehr ängstlichen Gesichtsausdruck, wollte fliehen und rief: "Mama, Mama, hilf, ich muss ersticken".
 

Solche Anfälle traten in den nächsten 10 Minuten noch dreimal auf. Beim zweitenmal erbrach die Patientin, obwohl sie an diesem Tag noch nichts genossen hatte - eine dünne, kotähnliche Masse. […] Eine Besserung des schizophrenen Zustandsbildes war nachher nicht zu sehen."
 
Die Psychiater wussten also zumindest augenscheinlich, was sie taten (oder eben auch nicht...), als sie zu dieser "aktiven" Behandlungsform griffen. Ein Assistenzarzt in Hamburg schrieb dazu: "Es handelt sich beim ... Cardiazolschock um einen reichlich brutalen somatischen Eingriff, der im wesentlichen etwas völlig Persönlichkeitsfremdes darstellt und sich somit der psychologischen Ausdeutung entzieht". Die zu behandelnde Krankheit "Schizophrenie" war rätselhaft und die Wirkungsweise der Behandlung unbekannt, aber es wurde weiter geschockt.
 
Eine sogenannte "frische" Schizophrenie wurde zumeist mit 10 bis 12, teilweise mit bis zu 20/30 Cardiazol-Krämpfen angegangen, berichtet die zeitgenössische Literatur. Es wird eine Frequenz genannt von 2-3 Grand-mal-Krämpfen pro Woche, oder auch eine "Serie" von 4-6 rasch aufeinanderfolgenden Krampfgeschehen.
 
Meduna studierte zu Beginn seiner Forschungen das Gehirn und die Krankengeschichten von Schizophrenen und Epileptikern und stellte fest, dass es offenbar einen "biologische Antagonismus" zwischen diesen beiden Erkrankungen des Gehirns gibt. Meduna schloss dann daraus, dass "reine" künstlich herbeigeführten epileptische Krämpfe in der Lage sein könnten, die Schizophrenie zu "heilen" - und innere Spannungen zurückzuführen.
 
Dann begann er verschiedene Arten von Tests mit krampfauslösenden Medikamenten an Tieren und dann an Patienten. Sein Ziel war es, vollständig kontrollierbar und reproduzierbar Krämpfe zu erreichen. Die erste Substanz, die er untersucht, in 1934 wurde Kampfer, aber die Ergebnisse waren nicht zuverlässig. Er testete auch Strychnin, Thebain, Pilocarpin und Pentilenetetrazol (auch bekannt als Metrazol oder Cardiazol), in dem er sie immer intramuskulär injizierte. Aber Medunas selbstgesteckte Ziele erreichte er nur, wenn er mit intravenösen Injektionen von Metrazol/Cardiazol experimentierte. Die Konvulsionen, die Krämpfe, erfolgten schnell und heftig, und waren dosisabhängig. Nach einer Serie von 110 Fällen konnte Meduna eine Entlastung von 50% angeben, mit bemerkenswerten Verbesserungen und sogar "dramatischen Heilungen", die er behauptete.
 
Meduna teilte seine Erkenntnisse im Rahmen eines Symposiums bei Münsingen, Schweiz, im Jahre 1937 mit. Von diesem Zeitpunkt an wurden zwei Lager von Psychiatern in Bezug auf die physiologische Schocktherapie festgelegt: Diejenigen, die die Insulin-Koma-Therapie verteidigten und jene, die einzig mit Metrazol/Cardiazol die Krampfbehandlung durchführten. Metrazol/Cardiazol war billiger, viel einfacher zu bedienen und sicherer, tatsächlich Krämpfe auszulösen. Ein Insulinkoma benötigte dagegen fünf bis neun Stunden Durchführungdauer, aber es war leicht zu kontrollieren und mit Injektionen von Glucose oder Adrenalin bei Bedarf zu stoppen. Metrazol/Cardiazol war dagegen stärker und schwer zu kontrollieren. Die Insulin-Therapie verursachte wenige Nebenwirkungen, während Metrazol/Cardiazol-Krämpfe so schwer waren, dass sie Frakturen der Wirbelsäule der Patienten verursachen konnten.
 
 
Der von Meduna angenommene Antagonismus zwischen Epilepsie und Schizophrenie konnte bei wissenschaftlichen Nachuntersuchungen in den 50 er/60er Jahren nicht aufrechterhalten werden. Man meinte dann, dass die zentral ausgelösten Konvulsionen selbst das Hirn positiv entlasten würden und so dem schizophrenen Patienten Erleichterung verschaffen.
 
Dr. Klaus Dörner (*1933), Psychiater und wissenschaftlicher Buchautor, betrachtet eine generell apostrophierte heilsame Wirkungsweise der Schockwirkung als in der Wissenschaft unbekannt. Man spreche mehr aus Verlegenheit z. B. von „zentral-vegetativer Umstimmung“. Von ihm wird dennoch die laienhafte Überzeugung: „Ich möchte Herrn X mal richtig von Grund auf durchschütteln, damit er endlich wieder zu sich kommt!“ nicht jede Berechtigung abgesprochen.
 
Sie entspreche einer der ältesten psychiatrischen Erfahrungen überhaupt. Hirnorganische oder auch andere körperliche Schocks oder Fieberschübe etc. könnten u. U. eine Abschwächung oder Unterbrechung psychotischer Erlebnisweisen veranlassen. Sie würden ihnen nach Walter Ritter von Baeyer den Boden entziehen, so die Angst, die Aufmerksamkeit und den Antrieb. Dieser Effekt wird in der Psychiatrie auch Symptomwandel genannt. 
 
Diese Behandlungs-Tortur entwickelte sich dann neben dem Insulin-Schock zum leichter auszulösenden Elektro-Schock (Stichwort: Jack Nicholson in dem Film "Einer flog übers Kuckucksnest"), der ja bis in unseren Tagen angewandt aber dennoch äußerst umstritten diskutiert wird - obwohl nur unter Narkose mit muskelentspannenden Medikamenten und nur in ausdrücklicher persönlicher Zustimmung mit dem Patienten oder seinen amtlichen Betreuern.
 
"...kurz vor dem Aufprall ein Sprungtuch spannen..."
 

Was aber geschah damals mit den "erkrankten" Menschen während einer Cardiazol-Schockserie, wie sie Erna Kronshage wohl einige Male hat mitmachen müssen: 
Der Historiker und Psychologe Hans-Ludwig Siemen verglich 1987 in seinem Werk "Menschen blieben auf der Strecke ...", S. 156, diese Tortur mit folgendem Vorgang: 

 

"Man werfe einen sich abweichend verhaltenen Menschen vom Dach eines Hochhauses und lasse ihn bis zum letztmöglichen Eingriffspunkt das Sterbenserlebnis durchleiden und spanne erst kurz vor dem Aufprall ein Sprungtuch. Man preise diese Methode als Therapie an, die - wen wunderts eigentlich - eine Erlebnisqualität besitzt, die Menschen, zumindest auf Zeit, verändert." (s. dazu die ärztlichen Eintragungen in den Dokumenten zum Verhalten von Erna Kronshage in der "Heil"anstalt Gütersloh": "wirkt läppisch", "trällert Schlager", "zuckt mit dem Kopf", "ist aufmüpfig und abweisend", "nachts unruhig"... ).
 
Mit derartigen "finalen" chemisch ausgelösten Erlebnismodellen verändert sich gewiss die biochemische Verstoffwechselung im Gehirn, also die Botenstoffübertragungen in den Neurotransmittern, die natürlich dann - positiv oder negativ - Verhaltensäußerungen beeinflussen konnten.
 
Vorgeblich "medizinisch-wissenschaftlich" wollte man mit solchen extremen Eingriffen wie Schockbehandlung oder "Dauerbad" und "Nasse Kalt-Ganzkörper-Wickelungen" die Körperabläufe mit der Selbstregulations-Reaktion stimulieren, und somit etwas "ableiten" - das "Quälende", die "Last", die "Stimmen", das "Bedrückende".
Man wollte die pathologischen und evtl. wahnhaften (Hirn-)Ablaufmuster (Stichwort: Reiz-/Reaktions-Schema) mit den extremen "therapeutischen" Interventionen unterbrechen - damit sich gegebenenfalls neue unbelastete "vernünftige", "gesunde" Verknüpfungen ausbilden konnten ... 
Die erst kürzlich mit 102 Jahren verstorbene Psychiatrie-Zeitzeugin Dorothea Buck hat diese Torturen ebenfalls noch kennengelernt, die sie als reine "Disziplinierungsmaßnahmen" einordnet und jede "Wissenschaftlichkeit" bezweifelt.
 
Der Disziplinierungsaspekt der meisten dieser Therapien, insbesondere der schmerzhaften und gefährlichen Zwangs-Schocktherapien, geht auch aus psychiatrischen Selbstzeugnissen hervor. 1988 sagte der Direktor der psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur, Benedikt Fontana, rückblickend über renitente Insassen seiner Institution:
 
"Wenn sie bockten, mussten wir sie schocken."
 

So wirksam der disziplinarische Effekt der Schocktherapien war - nicht zuletzt weil sie bei den Patienten gefürchtet waren -, so unwirksam waren sie als Therapien.
 
METRAZOL-/ bzw. CARDIAZOL-SCHOCK IM YOUTUBE-VIDEO
 

 
 
 
Bilder sagen oft mehr als 1000 Worte - von oben nach unten: eine Zusammenstellung der Cardiazol-Anfallsabläufe - hier in einem Film von einer Schauspielerin nachgestellt

 

 

 

Quellen: 

... wurde auf Antrag und auf Kosten der Eltern der Sarg ...

Packwaggon                                                     9

ca. 630 Bahnkilometer wird der Sarg mit Ernas Leiche im Güterwaggon der Reichsbahn auf ein Rangiergleis am Bahnhof "Kracks" in Senne II rücküberführt - in die unmittelbare Nähe zum Bauernhof der Kronshage-Familie - Symbolbild -

 

symbolfoto: sarg im güterwaggon

Es klingt mitten in all den Kriegswirren fast unwahrscheinlich und wie ein Wunder - und ist trotzdem Fakt: 

 

Nach ihrer Ermordung im Zuge der dezentralen "Euthanasie"-Phase am 20. Februar 1944 in der Vernichtungsanstalt "Tiegenhof" in Gnesen (heute: Gniezno/Polen) wurde auf Antrag und auf Kosten der Eltern der Sarg mit Erna's Leichnam in einem Reichsbahn-Packwaggon über 600 Bahnkilometer nach Senne II zum Bahnhof Kracks rücküberführt - und dort auf ein Abstellgleis rangiert, direkt vor das Hofareal der Kronshageschen Landwirtschaft - in die unmittelbare Nähe zur angrenzenden Schreinerwerkstatt vom Vater Adolf Kronshage...

 

Doch was ist diese punktgenaue präzise "deutsche" eineinhalb-wöchige Logistikleistung, wahrscheinlich der Gekrat, bestimmt aber der Deutschen Reichsbahn, unter diesen verheerenden Kriegsumständen, bei Luftangriffen und dem damals gebotenen Deckungnehmen der Güterzüge in bewaldeten und verschneiten Fluren mit diesem auf verschiedenen Teilstrecken jeweils angehängten Leichenwaggon - bei all den vertuschten Massenmorden dahinter - was sollte mit dieser Logistik und Präzision dargestellt werden - was sollte das sein ?: War dieses Verstecken und Vertuschen und Verschwindenlassen des der Leiche im Transportsarg im Packwaggon zugrundeliegenden perfiden Masssenmordes nur ein vordergründig zelebriertes kalkuliertes Den-Schein-Wahren und ein Sand-in-die-Augen-Streuen als auch ein Kopf-in-den-Sand-Stecken aller aktiv oder passiv Beteiligten - bis zuletzt??? War das Ganze nichts weiter als ein ganz markantes und unbestreitbar "deutsches" Spezifikum dieses Vernichtungssystems - eben nur eine wohlgeplante vordergründige präzise und exakt punktgenaue Ablenkunsleistung und Heimführ-Performance als heimtückische Verschleierung des im Hintergrund durchkalkulierten und ebenso punktgenau geplanten und eiskalt durchgeführten Tötens?:

"Der Tod ist ein Meister aus Deutschland", dichtete Paul Celan.

 

Der erst kürzlich verstorbene Zeitzeuge Herr Bruno F. hatte mir schon vor einiger Zeit berichtet, wie er als 11-/12-jähriger Nachbarsjunge der Kronshages - von schräg gegenüber - seinerzeit den Reichsbahn-Packwaggon auf dem Abstellgleis des Bahnhofes Kracks hat stehen sehen.

 

Gleich hinter dem Schreiner-Werkstattschuppen von Vater Kronshage, wo der immer bastelte und hantierte und reparierte, lief dieses Gleis auf dem direkt angrenzenden Bahnhofsgelände entlang. Da hatte man den Rangier-Lokführer gebeten, den Packwagen so abzustellen, dass man den Sarg daraus leicht bergen konnte.

 

Für den Jungen Bruno war das eine gruselige Vorstellung, dass Erna Kronshage als Leiche dort im Sarg liegen sollte - die Erna, die ihm als Nachbarin - so mit 6-/8-Jahren - beim Schreibenlernen behilflich war - und mit ihm das Diktat- und Schönschreiben in der Schule emsig geübt hatte.

 

Und das hatten sich die Erwachsenen zugeraunt: dass Erna im letzten Jahr ganz plötzlich abgeholt worden sei - und wohl in eine Anstalt gebracht worden wäre - mit Polizei und der "Braunen Schwester", dieser NS-Gemeindeschwester in braunfarbener Schwesterntracht. Bruno konnte sich da wenig drunter vorstellen - aber Erna sei wohl überarbeitet und überdreht gewesen - wollte morgens nicht pünktlich mittun und hätte plötzlich ihre Mitarbeit verweigert - und sie wäre sehr frech zu ihrer Mutter geworden...

 

Heutzutage wüsste er ja - so ungefähr erläuterte mir Bruno F. die Situation von damals, 66 Jahre später - dass Erna wohl dort "im elterlichen Betrieb" als "Haustochter" regelrecht angestellt gewesen sei. Und als landwirtschaftlicher Betrieb wurde der Hof damals nämlich als "kriegswichtig zur Ernährung des Deutschen Volkes" mit geführt - und stand wohl deshalb wie die gesamte Landwirtschaft im "Deutschen Reich" unter besonderer Beobachtung und Effizienzerwartung. Bummeleien konnte man sich nicht leisten, um den dringend benötigten Nahrungsertrag zur Versorgung der Zivilbevölkerung und "der kämpfenden Truppe an der Front" nicht zu gefährden - und jeder Ausfall an Arbeitskraft wurde auf Antrag sofort mit zugewiesenen Zwangsarbeitern aus dem Osten aufgefüllt. Die Landwirtschaft war ja noch nicht so durchmotorisiert wie heutzutage - es gab keine Trecker oder Mäh- bzw. Melkmaschinen.

Erna war als mittlerweile einzige Angestellte eines solch "kriegswichtigen Betriebes" befreit von den damaligen sonst üblichen Zwangsdienstverpflichtungen beim BDM oder Arbeitsdienst. Und da es den heute üblichen "Gelben Schein" als ärztliche Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung noch gar nicht gab, musste die Bummelei von Mutter Anna der NS-Gemeindefürsorgerin gemeldet werden, die das dann an den Amtsärztlichen Dienst der Kreisgemeinde weitergab, und der dann nach einer Untersuchung über eine tatsächliche Arbeitsunfähigkeit befand.

Und über diesen Weg hat dann Erna ja auch ihre nach eigenem Befinden benötigte "Auszeit" mit Hilfe der NS-Gemeindeschwester mit einer polizeilichen Einweisung in die Provinzialheilanstalt Gütersloh durchgesetzt - gegen den erklärten Willen der sorgeberechtigten Eltern - und - wie wir heute wissen -"von da an ging's steil berab" ...

 

Und obwohl er fast täglich rüber ging zum Spielen und Buddeln und Bolzen oder Mitanpacken zu den Kronshages auf den weitläufigen Hof, hatte er an Erna selbst zuvor keine Veränderungen irgendwelcher Art wahrgenommen. Sie war freundlich und schnippisch wie eh und je.

 

Sie übten zuletzt kein Schönschreiben mehr, wie sie das früher oft miteinander auf der Schiefertafel mit Griffel und Schwamm gemacht hatten, denn Bruno tat sich schwer mit dieser alten Sütterlinschrift, wo doch alle - auch sein Vater im Krämerladen - längst die runde "Lateinschrift" als flott hingeklirrte Handschrift bevorzugten.

 

Und doch legte der Lehrer Bröker in der Gemeindeschule noch immer großen Wert auf eine exakte Sütterlin-Krakelschrift mit Lang-s und Schluss-s - und allem drum und dran.

 

Und keine Flecken und Tintenkleckse ins Schönschreibheft - ja - das konnte Erna ganz penibel und prima ihm vormachen - und sie war sehr geduldig beim Kringel- und Hakenmalen und beim Auf- und Abschwung.

 

Und nun lag sie als Leiche da bei Eiseskälte tot im Packwaggon - und war wohl über Hunderte von Kilometern hierhin zurück transportiert und überführt worden. Die Erwachsenen in Vaters Laden hatten erzählt, wie wohl Ernas Bruder Heinrich und Vater Kronshage den Sarg aus dem Waggon gehievt hatten - bei Nacht & Nebel und Schnee - und in den Werkstattschuppen zunächst gebracht hatten. Und das war ja wohl verboten, den amtlich versiegelten Sarg dann einfach zu öffnen, um zu nachzuschauen, ob "ihr Ernchen" sich auch tatsächlich darin befand.

 

Filmstill: Leichenwaschung

 

 

Da haben sie wohl die Leiche begutachtet, denn ob sie als 21-jährige junge gesunde Frau da in der Anstalt so fern von Zuhause so plötzlich ohne schwere Erkrankung einfach verstirbt - an "Lungenentzündung", raunten sie hier und da - aber sie sei nur noch "Haut & Knochen" gewesen, habe Mutter Anna gesagt - und im Totenschein stände ja wohl auch, sie sei an "Erschöpfung" gestorben - sie hätte nicht genug zu essen bekommen - und man habe ja - so wurde gemunkelt - mit einschläfernden Medikamenten nachgeholfen - denn Einstiche von Spritzen haben sie bei der laienhaften Leichenschau da im Schreinerschuppen nicht ausmachen können.

 

Also Bruno konnte damit nicht viel anfangen: an "Erschöpfung" stirbt man doch nicht - und überhaupt - warum war Erna über ein ganzes Jahr plötzlich weg und nicht mehr da .... ???

 

Brunos Eltern hatten ihm verboten, rüberzugehen und vielleicht auch einen Blick auf die nun tote Erna zu werfen - so quasi zum Abschied.

 

Und es war ja auch mitten im Krieg - und Tote und Gefallene gab es fast in jeder Familie in der Ortschaft und in Vaters Ladenkundschaft - und in der Nachbarschaft war ja der Gutshof von den Westerwinters vor drei Jahren bombardiert worden von den "Tommys" mit einem Kampfflieger - einfach furchtbar.

 

Bruno durfte auch nicht mit zur Beerdigung ein paar Tage später, als ein kleiner Tross ganz in Schwarz gekleideter Menschen aus Familie und Nachbarschaft hinter dem Wagen hergingen, mit dem der Sarg auf den Friedhof gefahren wurde, der fast einen Kilometer entfernt lag. Zuvor hatten sie wohl die inzwischen zurechtgemachte Erna-Leiche auf der Deele bei Kerzenschein im Bauernhaus zum Abschiednehmen aufgebahrt. 

 

Da hatte Bruno heimlich auch mal durch die Deelentür gespäht, aber konnte vor weißen Laken und Kissen vom weiten im Sarg nichts erkennen.

 

Und so hat er sich "seine Erna" als geduldige aber oft fröhlich lachende und doch auch gestrenge "Nachhilfe-Lehrerin" fürs Schön- und Richtigschreiben in Erinnerung behalten - egal was die Leute redeten - auch hinterher - dann all die Jahre ...

 

 

 

 
 
 
Übersetzung des o.a. Dokuments:
 
Kommission für die Untersuchung von NS-Verbrechen im Institut des Polnischen Nationalen Gedenkens, Warschau
13.11.1986 - I.dz.Zh.IV/4631/381/86
 
Als Antwort auf Ihr Schreiben vom 12.02.1986 informieren wir höflichst, dass wir als Ergebnis unserer durchgeführten Suche festgestellt haben, dass im Institut für Nervlich und Psychisch Kranke "Dziekanka" in Gniezno ein Hauptbuch in Verwahrung war aus den Jahren 1942 - 1948, aus dem zu ersehen ist, dass Ihre Tante Erna Kron[s]hage, Patientin dieses Betriebes, dort verstorben ist am 20.02.1944 um 09.30 Uhr, eingeschrieben unter der Position 15134/7161. Weitere Akten der Patientin, die Krankengeschichte etc., kamen angeblich zur Vernichtung als Folge des verbrecherischen Kriegsgeschehens. Die Todesurkunde von Erna Kron[s]hage wurde eingetragen im Standesamt in Gniezno unter der Nr. 99/1944/2.    
 
Unterschrift: Stellvertretender Direktor Assoc. Dr. Mieczyslaw Motas
 
 
 

In der Nacht zu Sonntag, dem 2.Juni 1940

 

 

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In der Nacht zu Sonntag, dem 2.Juni 1940, geschieht in der allernächsten Nachbarschaft etwas Furchtbares und wiederum auch Eigenartiges. Ein offenbar verirrter britischer Einzel-Kampfflieger klingt über dem Gehöft Westerwinter - auf der gegenüberliegenden Straßenseite gelegen, vielleicht 100 Meter Luftlinie vom Kronshagschen Hof entfernt - mehrere Bomben aus und wirft sie bei seinem urplötzlichen Angriff am späten Abend ab. Sie treffen das große nachbarliche Gutshaus mit mehreren Nebengebäuden und führen dort zu Feuer und Zerstörung. Durch eine einstürzende Verandadecke wird die dort ansässige Nachbarin Ida G. im Alter von erst zweiundzwanzig Jahren getötet und ihr Freund August K. schwer verletzt.

 

Der Krieg selbst findet bis zu diesem Datum von Erna und der Landgemeinde Senne II eigentlich weit weg im Irgendwo statt - und wird von Erna höchstenfalls durch die spärlichen Feldpostbrief-Berichte ihrer Brüder von der Ostfront wahrgenommen, doch eben fernab von der Heimat geführt – und das bringt schon genug Sorge und Angst und Anspannungen mit schlaflosen Nächten mit sich.

 

Und ansonsten findet dieser Krieg, 9 Monate nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen, bisher eigentlich nur in der Zeitung und im Radio statt.

 

 
Und nun dieses Desaster - wie aus heiterem Himmel - unmittelbar vor der eigenen Deelentür. Es ist der erste Bombenabwurf in ganz Ostwestfalen-Lippe. Wie leicht hätte es den Mühlenkamp treffen können, denn der Kampfflieger wollte ja vielleicht den Bahnhof Kracks oder die Bahnlinie ganz in der Nähe treffen, denn ansonsten gibt es zu dem Zeitpunkt ja weit und breit keine kriegswichtigen Ziele.
 
Die Bahnlinie vielleicht, um die Bahntransporte von militärischen Nachschubgütern aus der Firma Benteler in Schloss Neuhaus bzw. die Versorgungslinie zum Truppenübungsplatz Senne zu unterbinden.
 
Vielleicht hat aber auch ein in schlingernden Schwierigkeiten geratener alleiniger Bomberpilot Ballast abwerfen müssen - und es sind tatsächlich zufällige und ungeplante Treffer. 
 
 
Am makabersten ist dann jedoch am Wochenende darauf ein regelrechter Bomben- und Katastrophentourismus zu Fuß und mit Fahrrad, Bus und Bahn und Pferd und Wagen und PKW aus Bielefeld und Verl und Schloß Holte und aus Gütersloh und Paderborn. Alle wollen die Gebäudetrümmer und die frischen Bombentrichter auf dem Westerwinterschen Hof und daneben sehen. 
 
Die gesamte allmählich schon installierte Luftschutzabwehr hat jedoch kläglich versagt. Es hat keinerlei Sirenengeheul gegeben, auch kein Flakabwehrfeuer, wie Erna das späterhin noch einige Male zu Genüge miterleben wird. Es gab keine Warnungen.
 
Erna schreckt kurz nach dem Einschlafen auf, hört den Lärm, das Dröhnen und Aufheulen des Kampfflugzeugmotors beim Ansetzen zum Tiefflug, um seine tödliche Last abzusetzen, hört das Krachen und sieht die Blitze. Und erst die Feuerwehrsirenen einige Zeit später sind ein tatsächlicher Hinweis auf diese Katastrophe, die sich da gerade vor der Deelentür abgespielt hat.
 
 

Mit dieser Katastrophe direkt in unmittelbarer Nähe zum Nachbar-Gutshof sitzt für die 17-jährige Erna der Schock tief - und tritt nun zusätzlich abrupt zu den diffusen Ängsten um die Fronteinsätze ihrer Brüder - die Welt scheint geradezu stehenzubleiben.

Bomben
aus "heiterem
Himmel"
 
Das ist also dieser „heldenhafte Krieg“, von dem früher schon in der Schule die Rede war, und der jetzt - nach "Blitzsieg" zu "Blitzsieg" - überall auf Schritt und Tritt voller Enthusiasmus und Gloria gefeiert wird. Von einer todbringenden und zerstörerischen Gegenwehr des Feindes, von eigenen Verlusten und Katastrophen in der Heimat in einem solchen Krieg ist zuvor nie die Rede gewesen.


 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Dieser Schock geht Erna durch und durch. Erna leidet - und es stehen keine Katastrophenhelfer bereit, diesen Schock angemessen aufzuarbeiten. Die alltägliche Arbeit in der Landwirtschaft als "Haustochter im elterlichen Betrieb" zwingen sie, rasch zu verdrängen und einfach weiter zu machen.
 
Doch Erna Kronshage ist durch ihre Intelligenz auch äußerst sensibel - und dann trifft ein solches unmittelbares Geschehen besonders hart. Das steckt man als 17-jährige, die als jüngstes "Nesthäkchen" in der großen Geschwisterreihe bisher besonders behütet aufwächst, nicht einfach so weg - diese plötzliche existenzielle Bedrohung - aus "heiterem Himmel"  - diese panische Angst vor der eigenen Zukunft ...
 

also - ich erhebe hier eure familienanamnese - so heißt das 

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die rekonstruktion eines arztgespäches bei aufnahme in die anstalt

 

also - ich erhebe hier eure familienanamnese - so heißt das - wie sich deine familie auf der sippentafel in der ahnenreihe abbilden lässt - und ob es vererbbare erkrankungsprobleme in früheren generationen gegeben hat, die du heute in dir tragen könntest.

in unseren unterlagen steht, das im frühjahr 1939 schon einmal deine schwester frieda bei uns eingewiesen wurde - nachdem sie in ihrer arbeitsstelle in brackwede einen zornesausbruch erlitten hatte, nach einem streit mit einer arbeitskollegin - ich denke, du weißt davon ???

 

ja - natürlich - frieda hat mir ja auch gesagt, ich solle mich auch mal hierhin einweisen lassen. hier könnte ich mich in null-komma-nix wieder erholen von meiner erschöpfung. ja - erschöpfung ist das wohl, was ich habe - und was mich so schlapp macht, weshalb ich nichts geregelt bekomme - und plötzlich nicht mehr weiß, was ich als nächstes machen soll - und was ich schon gemacht habe.

 

ach so - verstehe ich das also richtig: deine schwester frieda hat dir empfohlen, dich hierher bringen zu lassen - und du willst dich hier also

erholen, dich ausspannen ...??? also erna - daraus wird hier nichts. wir müssen alle unsere arbeit machen - und wir sind im krieg - mädchen - da kommt es auf alle helfenden hände an. und du bist ja zur arbeit - zur arbeit! - auf dem hof deiner eltern angestellt - und deshalb von den bdm-verpflichtungen und vom arbeitsdienst usw. freigestellt, hat mir die nsv-schwester erzählt, die dich bei deiner einweisung begleitet hat. du bist in einem arbeitsverhältnis - und in einem landwirtschaftlichen betrieb arbeitest du an vorderster front für volk und vaterland - wie wir alle - und das gilt auch für dich.

aber zurück zu deiner schwester frieda: was hat dir die denn erzählt von uns, dass sie dich hierhergeschickt hat???

 

na ja - sie war hier ja im frühjahr vor 3 oder 4 jahren für vier wochen - wohl zu einer art "heilkur", so hat sie das wohl empfunden. sie war ja in ihrer arbeit bei einem streit sehr wütend geworden, so dass man sie direkt von der arbeit hier nach gütersloh gebracht hat. und hier hat sie die meiste zeit im bett gelegen - und sich mal so richtig ausgeschlafen, hat sie erzählt. und die schwestern hätten sie auch in ruhe gelassen. nach ein paar tagen aber musste sie dann mit an die frische luft in die arbeitskolonne für den garten, da musste sie mit schnee fegen - und wege harken - und wenn es draußen nichts zu tun gab, musste sie mitmachen beim kartoffelschälen in der schälküche, das hat ihr spaß gemacht gegenüber der eintönigen schraubarbeit in der firma. und viele der anderen frauen - hat sie erzählt - wären hier etwas überkandidelt gewesen und hätten geschrien - und hätten sie ein "faultier" genannt. und hätten sie oft in ihrer vom arzt verordneten ruhezeit gestört. ja - der arzt wäre nur eimal bei ihr gewesen. der hätte wohl viel anderes zu tun gehabt - und sie sei ja nur ein "leichter fall" gewesen.

 

aha - "leichter fall" - das musst du uns studierten ärzten schon überlassen, wie wir das jeweils beurteilen. wir brauchten damals betten für schwerere fälle - und haben deine schwester dann recht hals über kopf entlassen, weil wir ihr hier sowieso nicht recht helfen konnten. sie sei halt schnell wütend und aufbrausend, und dafür gibt es keine heilanstalten - das muss sie schon selber mit sich und ihrer umgebung und ihrem mann ausmachen. 

aber wenn du hier jetzt auch auftauchst mit so fadenscheinigen allgemeinzuständen - wo doch jede hand heutzutage draußen im feld gebraucht wird - da müssen wir uns mal etwas näher mit eurem "faulen fieber" in der familie und euren "ausnahmezuständen" befassen. da scheint ja etwas ganz anderes in euch zu rumoren, in eurer sippe - in eurer familie.

und glaub nicht, dass du auch hier erstmal im bett liegen kannst: schon morgen gehst du mit zum kartoffelschälen, das kennst du ja von zuhause - und dann kommst du nicht auf dumme gedanken - und dann werden wir dir schon die flausen hier austreiben ...

 

 

S.51/52 des 114-seitigen XXL-yumpu-magazins - click

Der Bettelbrief ist ein beschämendes Zeugnis 

 

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"... bitte ich Sie  inständig, mir  

meinen Wunsch schon als  Mensch  zu erfüllen ..."

 
Der besorgte Vater Adolf Kronshage
bettelt im Juni 1943 beim
"Erbgesundheitsobergericht Hamm" 
auf Herausgabe
seiner noch minderjährigen Tochter Erna Kronshage,
um sie vor der Zwangssterilisation
zu schützen ...
 
  • Der Bettelbrief ist ein beschämendes Zeugnis auf dem Weg zur dann auf Beschluss erfolgten Zwangssterilisation am 4. August 1943 - und dann zur Euthanasie-Ermordung in der NS-Vernichtungsanstalt "Tiegenhof" im okkupierten Polen am 20.Februar 1944 ...

Original-Reproduktionen aus dem Studienblog ERNA KRONSHAGE, Abschnitt 15 - click dazu auch auf die Kopie-Abb.

>> Zur Original-Arbeitskopie der gesamten Erbgesunheitsgerichtsakte Erna Kronshage >> click hier

 

erna

ist auf dem familienfoto

von ca. 1930

die zweite von links /

 

die stolze großfamilie kronshage um 1930 - erna ist die zweite von links, die jüngste / das nesthäkchen ... - erna's vater ist der 5. von rechts

erna's vater - also mein großvater mütterlicherseits -  hat um seine tochter trotz eigener gesundheitlicher einschränkungen vehement gekämpft: als elterlich sorgeberechtigter bzw. "gesetzlicher vertreter" (erna erreichte erst 2 monate vor ihrem tod die  volljährigkeit! - damals mit 21 jahren) hat er, der damit ja auch das "aufenthalts-bestimmungsrecht" für seine tochter wahrnehmen konnte, immer wieder mit der "heilanstalt" korrespondiert wegen einer baldigen entlassung, da er die diagnose "schizophrenie" sowieso anzweifelte - und erna zu hause in der land-wirtschaft als einzig übriggebliebene mitarbeiterin dringend benötigt wurde -

 

der landwirtschaftliche nebenerwerbshof der kronshages unterstand in diesen ns-herrschafts- und kriegszeiten zwangsweise den ns-"reichsnährstand"-auflagen und wurde damit auch zu einem "kriegswichtigen" betrieb erklärt, wodurch auch der mitarbeiter-einsatz zentral reglementiert wurde, ggf. auch zwangsarbeiter eingesetzt wurden, um keine ertragseinbußen hinnehmen zu müssen. 

 

erna's "blaumachen" im herbst 1942, mit der das ganze prozedere ja losgetreten wurde, war also keineswegs nur eine familieninterne angelegenheit...

 

click zur komplett-kopie der erbgesundheitsgerichtsakte

 

... sondern musste "von amts wegen" in einem kriegswichtigen "reichsnähr-stand-betrieb" angezeigt und gemeldet werden, denn erna war als "haustochter im elterlichen betrieb" ja als land-/hauswirtschaftliche arbeiterin dort offiziell berufstätig angestellt. 

 

damit war sie gänzlich freigestellt von den damals üblichen zwangsdiensteinsätzen der jugendlichen wie "pflichtjahr", "landjahr" oder "reichsarbeitsdienst". und deshalb schickte die zunächst angesprochene ns-gemeinde-fürsorgerin erna zum amts-   ärztlichen dienst der kreisgemeinde, der die ursache der plötzlichen verstimmung und arbeitsverweigerung untersuchen und beurteilen sollte -

 

denn es gab damals nicht etwa einen "gelben schein" vom hausarzt, wie das heute üblich ist bei einer arbeitsunfähigkeit als mitarbeiter

 

hausärzte waren rar, und es musste im weiteren sinne der "betriebs"-vertrauensarzt konsultiert werden: die arbeiterschaft in der zwangsreglementierten landwirtschaft war eher "militärisch" straff durchorganisiert - auch im hinblick auf die etwaigen ost- und zwangsarbeiter vielleicht in der nachbarschaft.

 

und der vater wollte natürlich auch die jetzt drohende zwangssterilisation verhindern, die auf antrag des anstaltsdirektors durchgeführt werden sollte, eben wegen dieser anzuzweifelnden chronischen "erb-erkrankung"... 

bevor  diese Situation im Mühlenkamp um Erna eskalierte

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Frau Alma R.’s Situationsbeschreibung als Zeitzeugin:

 

Das ist hier gar keine "Szenarien-Rekonstruktion" sondern die Gedächtnis-Zusammenfassung der Befragung einer Klassenkameradin Erna Kronshages als direkte Zeitzeugin - ca. Ende der 80-er Jahre - also 50 Jahre danach...

 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 

„Also unmittelbar, bevor  diese Situation im Mühlenkamp um Erna eskalierte, soll sie ja verstärkt ihre Freundin von nebenan, die Helga K., besucht haben.  Nee, ihre Mutter fand das gar nicht gut. Aber was fand die Mama Anna schon gut von dem, was die Erna in ihrer allzu knappen Freizeit machte.

 

Die Erna ist da so hineingeschlittert, als letztes Kind ihrer Eltern ebenso wie als Kind ihrer Zeit. Ihr Schicksal war es, in immer stärkere Zerrissenheit zu gelangen, sich nicht eindeutig entscheiden zu können, eben auch zwischen den Fronten zu stehen. Der äußere Krieg wurde auch gleichzeitig in ihr zu einem inneren Krieg.
 
Für Erna war das eine zunehmend ausweglose Situation. Wir alle, ihre ehemaligen Schulkameradinnen, kamen im Nachhinein besehen insgesamt besser dabei weg, trotz aller massiven Nachstellungen durch den politischen Gegner und dem furchtbaren Schicksal unserer Eltern hier und da. Mein Vater wurde ja als früherer SPD-Bürgermeister von Senne II sogar ins Gefängnis gesteckt wegen "Hochverrat", weil er etwas Kritisches zum NS-Staat gesagt hatte. Unsere Eltern hatten ja schon vor Jahren selbst in der Stadt oder in ihren Betrieben nach Lehrstellen für uns gefragt oder nach Arbeitsmöglichkeiten. Bei Erna stand von Anfang an fest, dass sie auf dem Hof erst einmal zu bleiben habe und den Eltern zur Hand gehen müsse. Und das war in ihrer Familie scheinbar völlig normal. Da war man selbst seines Glückes Schmied, und die Eltern hielten Erna nur unnötig fest, eigentlich aus egoistischen Motiven, denn man konnte damals doch längst einen polnischen oder russischen Zwangsarbeiter für den Hof anfordern. Das haben alle gemacht - und da hatte auch niemand moralische Bedenken. Gerade auch, wenn man Söhne an der Front hatte - und Papa Adolf hatte ja das Asthma und Mama Anna hatte ja das Mutterkreuz in Gold.
Die hätten bestimmt einen "Fremdarbeiter" bekommen - und Erna hätte eine Ausbildung anfangen können - oder wenigstens auch in einer Firma arbeiten, damit sie mal rauskam.
 

Also, wenn Sie mich fragen, es musste zu einem Eklat kommen. Das war eigentlich abzusehen. Das war deutlich wahrzunehmen. Damals haben wir das so deutlich nicht gesehen. Wir waren noch viel zu jung, noch viel zu unreif, um dafür bereits Antennen entwickelt zu haben. Heutzutage weiß ich, dass es erkennbar war, was dann auch passiert ist.

Das fing damit an, dass Ernas Arbeitskittelkleider morgens immer verschmutzter wirkten, etwas weniger oft gewechselt, und auch ihre Haare schienen weniger gepflegt. Sie selbst schien plötzlich insgesamt weniger gepflegt zu sein. Zuvor erschien sie trotz ihrer schweren Arbeit und der entsprechenden Arbeitskleidung immer noch frisch und adrett. Es war alles sauber, es passten die Farben zueinander, die Holzschuhe waren gereinigt. Und das hörte schlagartig auf, das wurde dann alles etwas schludriger. Ich war ihr ja eine ganz gute Kameradin und Freundin, ich hätte sie auch darauf angesprochen, aber ...

 

Ja – und dann kamen die Tage, das war dann so im Herbst 1942, an denen wir morgens Erna nicht zu Gesicht bekamen, wenn wir die Fahrräder abstellten auf dem Mühlenkamp-Hof. Wenn wir dann Mutter Anna fragten, wo die Erna sei, ob sie krank sei, dann hat Mutter Anna geantwortet, ja, die sei wohl krank, die habe wohl das „faule Fieber“. Faules Fieber. Ja, wer abends bis in die Puppen drüben bei der Freundin zum Quatschen säße und nur noch Flausen im Kopf habe, käme eben frühmorgens nicht aus dem Bett. Und Mutter Anna sagte auch, sie habe schon mit der "Braunen Schwester" gesprochen vom NSV, die ab und zu vorbei käme, weil Erna so "widersetzlich" wäre.

 

Vereinsamung in einer Großfamilie 

 

 

Heutzutage denke ich, wir hätten uns vielleicht mehr kümmern sollen. Denn ihr Zustand hatte sicherlich auch damit zu tun, dass sie auf dem Hof regelrecht "vereinsamt" war, als Jüngste in der Geschwisterkette. Die Schwestern verheiratet oder aus dem Haus - und die Brüder im Krieg an der Front. Und Erna blieb zurück und hatte niemanden mehr zum Reden. Wir hätten mit ihr reden müssen. Da mache ich mir richtig Vorwürfe manchmal. Damals hätte uns die Erna gebraucht, als Freundinnen, als Gesprächspartnerinnen. Aber irgendwie war uns Ernas Leben auch damals schon zu fremd geworden. Ihre Realität hatte mit unserer Realität ja wenig gemein. Und dieser etwas "einfältige" Alltag bei all ihren Begabungen führte dann sicherlich zu dieser eigenartigen "Einweisung" in die Heilanstalt, an der sie ja selbst mit beteiligt war.

 

Ob das mit dem Bombenabwurf gegenüber dem Mühlenkamp bei Westerwinter im Zusammenhang gestanden hat - das weiß ich nicht. Den hat Erna ja auch wieder ganz anders erlebt als wir, die wir weiter entfernt wohnten und keine Nachbarn von Ida G. waren.

Wir hätten damals mehr mit Erna reden sollen ...“
sinedi.@rt: outside

 "Hier - ich soll nach Gütersloh in die Heilanstalt ..."

4

 

"Herr Doktor - ich muss mich mal dringend erholen" ....

 

Bildtafel 29 aus dem XXL-Album

 

 

Da gibt es die überlieferte Geschichte, wie Erna, begleitet von ihrer Schwester Lina, aus Brackwede mit dem Fahrrad heimkehrt nach Hause, nach Senne II in den Mühlenkamp, nachdem sie bei der amtsärztlichen Untersuchung war und ihrem Vater die Überweisung zeigt: "Hier - ich soll nach Gütersloh in die Heilanstalt - und soll mich da erholen... - und ich will das auch - so wie damals Frieda - der hat das auch gutgetan...".

"Kind - ich glaub's dir wohl - wir brauchen dich doch hier auf dem Hof - du kannst doch in diesen Zeiten nicht herumflanieren - und dich 'erholen'. Das sind doch wieder Flausen im Kopf - solange du noch nicht volljährig bist - und hier als 'Haustochter' arbeitest, sind wir für dich verantwortlich - da kannst du nicht machen was du willst. Deine Brüder sind im Feld - und mein Asthma - und Mama wird auch immer älter ... - Kind - wir brauchen dich doch!" 


"Herr Doktor", soll sie dort beim Amtsarzt - allen Mut zusammenfassend - gesagt haben: "Ich möchte in die Heilanstalt nach Gütersloh - wissen Sie - da wo meine Schwester Frieda neulich mal gewesen ist. Die hat sich dort nach einem sehr nervigen Streit auf ihrer Arbeit wieder ganz prächtig da erholt. Statt in der stickigen Fabrik zu sitzen ist sie dort in die Gartenkolonne gekommen - und hat im Sonnenschein Unkraut gezupft - und konnte mit den anderen Frauen quatschen. Also - sie meinte - das wäre auch etwas für mich, damit ich wieder zu Kräften käme - und mal unter die Leute - und mal was anderes sehe. Ich bin nämlich regelrecht fertig und ausgepumpt zu Hause.


Da muss ich morgens andauernd so früh raus - auch wenn ich mal drüben bei Helga, der Nachbarin, war - und wenn deren kleines Kind schreit, dann quatschen wir halt etwas länger und schauen Illustrierten an und hören Radio - und schminken uns gegenseitig - manchmal die halbe Nacht. Ihr Mann - der junge Vater - ist ja auch an der Front wie auch alle meine Brüder - wir stören keinen - und der Kleine schläft dann meisten gegen 1 - halb 2, wieder ein, wenn er nochmal an der Brust war - und trotzdem muss ich dann ja morgens auch wieder so früh ran auf dem Hof - und hab einfach keine Lust mehr - diese ewige Maloche. Ich will auch mal raus und was erleben - aber hier ist ja nichts los - außer vor 2 Jahren der Fliegerangriff vom Tommy auf den Hof gegenüber - aber das war ja auch eher schecklich und traurig. 


Ansonsten huschen morgens die Zugpendler über den Hof und stellen ihre Fahrräder an die Eichen um dann vom gegenüberliegenden Bahnsteig mit dem Zug zu fahren - und Mama und ich sortieren die dann, damit sie abends wieder schnell zum Wiederlosfahren gefunden werden beim Abholen. Das ist aber immer der gleiche Trott - besonders seitdem meine Brüder weg sind an der Front. Früher - ja - da hat Willi mal Schifferklavier gespielt - und ich durfte mal an der Zigarette ziehen, die Ewald sich angesteckt hatte.
Aber jetzt habe ich nur noch meine Nachbarin Helga mit ihrem Kind - und da bin ich ganz vernarrt in den Kleinen - und wir wickeln und wir pudern zusammen - und da hab ich schon viel gelernt - Herr Doktor. 
Aber ich muss mal raus aus dem Trott. Schicken Sie mich also ruhig nach Gütersloh - da komm ich mal unter die Leute - und komme wieder zu mir.


Aber sagen Sie nichts meinen Eltern davon, was ich hier gesagt hab. Schreiben Sie vielleicht am besten einfach eine Einweisung nach Gütersloh, damit ich mich wieder ein wenig erhole ...

 

 

Erna wurde älter - und sehnte sich nach einem "ganz normalen" Familienleben - so wie bei der Nachbarin Helga, mit ihrem Kleinkind. Da war der Mann und junge Vater zwar auch im Krieg - aber der war ja auch irgendwann mal zu Ende... Und Erna hatte ja bis da

 da steigen manchmal bilder auf - und verknüpfen sich

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ich habe überlegt, wo diese "anmerkung", diese assoziation, diese andacht hier auf den seiten dieser website unbedingt ihren platz einnehmen könnte - und habe mich dann hierfür entschieden:

dieses jahr hat es ja an historisch hehren erinnerungen in sich: 75 jahre nach kriegsende - 75 jahre befreiung auschwitz - 75 jahre nach den ns-euthanasie-krankenmorden:

 

da steigen manchmal bilder auf - und verknüpfen sich dann mit den texten, auf die ich "zufällig" stoße - und die mir anstoß sind - und manchmal auch "anstößig":

 

da blicke ich auf das stelenfeld in berlin - und da lese ich von den 75.000 stolpersteinen, die der künstler gunter demnig inzwischen gelegt hat - in europa - diese messingplaketten mit

eingraviertem namen, jeweils vor dem letzten "freien wohnsitz" des benannten ns-opfers. und da sind sie jeweiligen paten, die dafür gesorgt haben, dass überhaupt ein stolperstein gelegt wird - und da sind die kämpfe von interessengruppen, damit so ein projekt wie das stelenfeld in berlin zum gedenken an die opfer des holocausts überhaupt angeschoben und dann letztlich auch millionenschwer umgesetzt wird: mitten in berlin - in bester lage: in nähe vom brandenburger tor und vom reichstagsgebäude ...

 

und dann denke ich an die anerkennung aus dem ausland über die gedenk- und erinnerungskultur hier in deutschland zu allem, was da zwischen 1939 und 1945 geschehen ist - ja und ich denke auch an den "vogelschiss" des bundestagsabgeordneten gauland, wie er diese ns-epoche tituliert und bezeichnet hat.

 

 

und just in diesen überlegungen - und in diesen gefühlverwirrungen von innerer trauer über all das leid, das damals geschehen ist - in allen familien - mehr oder weniger - aber auch dem stolz, wie hier in deutschland diese zeit aufgearbeitet wird - und wie ihr gedacht und wie erinnert wird

 

- und über diese ewig gestrigen, die diese zeit wegradieren wollen - aus den augen aus dem sinn... - und just in diese überlegungen stolpere ich über diesen text aus 

 

matthäus 23, in den versen 27-32:

 

"Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler!

 

Denn ihr gleicht übertünchten Gräbern, die von außen zwar schön scheinen, inwendig aber voll von Totengebeinen und aller Unreinheit sind. 

 

So scheint auch ihr von außen zwar gerecht vor den Menschen, von innen aber seid ihr voller Heuchelei und Gesetzlosigkeit. 

 

Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler! 

 

Denn ihr baut die Gräber der Propheten und schmückt die Grabmäler der Gerechten 

und sagt: Wären wir in den Tagen unserer Väter gewesen, so würden wir uns nicht an dem Blut der Propheten schuldig gemacht haben.

 

So gebt ihr euch selbst Zeugnis, dass ihr Söhne derer seid, welche die Propheten ermordet haben. Und ihr, macht nur das Maß eurer Väter voll! ..."

 

 

dieser text sagt viel zu unserem eingebildeten "reinen" nachkriegs-generationsgewissen: "da habe ich doch nichts mehr mit zu tun - das waren die "nazis" - und in unserer familie war keiner "nazi" - gab es keine "nazis" ...

 

dabei wird oft verkannt, dass die nsadap damals bis zu 9 millionen freiwillig eingetretene "parteigenossen" hatte: 9 millionen bei einer gesamtbevölkerung von rund 80 millionen menschen, wovon wohl ca. 60 millionen volljährig waren: also jeder 6. bis 7. erwachsene reichsbürger war mitglied der nsdap ...

 

ich will nun auch nicht moralisch werden - und ich habe etwas gegen "sippenhaft" - das klingt mir zu sehr nach "erbbiologischen" überlegungen. aber man darf nicht verkennen, dass die allermeisten deutschen familien dem zeitgeist damals positiv gegenüberstanden - und passiv bzw. aktiv "mitmachten" - oder denen das - wie alles - "egal" war - aber "egal" ist keine meinung! 

 

"nazis" - das war nicht eine braun- oder schwarzuniformierte extra-bande: die "nazis", das waren die deutsche gesamtgesellschaft - und diese tatsache sollte für alle nachgeborenen ein heilsamer schock sein ... ew-si

 ... und dazu fällt mir auch der saloppe spruch von "fräulein" bahlsen ein: in ihrem betrieb sei man immer immer "gut" zu den zwangs- und ostarbeiter*innen gewesen ...

 

Erna lacht ja, um nicht losheulen zu müssen

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"Mein Lachen ist Weinen"

allein auf weiter flur - erna's alltag ist zum heulen
... das Protokoll der mobilen Erbgesundheitsgerichts-Verhandlung in Gütersloh ...

Am 29. März 1943 sitzen 

  • ein Amtsgerichtsrat und
  • zwei Medizinal-Oberärzte -

wahrscheinlich am langen Tisch des damaligen holzvertäfelten Sitzungs- und allmorgendlichen Arztbesprechungszimmers im Verwaltungsgebäude der Provinzial-Heilanstalt Gütersloh. 

 

Sie bilden an diesem Tag das mobile Bielefelder „ErbgesundheitsGericht“, und sie beschließen dort im 20-Minuten-Takt über die „Unfruchtbarmachung“ von insgesamt 11 Patient*innen.

 

Erna Kronshage wird dort als dritter „Fall“ laut damaliger uns vorliegender Vorab-Planung der Verwaltung von 8.40 bis 9.00 Uhr „vorgeführt“, wie es im amtsdeutsch im Sitzungsplan heißt: Ohne Anwalt - nur mit der wohl mehr schweigend mitfühlenden dabeisitzenden Schwester als die vom erkrankten Vater bevollmächtigte Beistandsperson, die gerade sechs Wochen zuvor selbst ihr erstes Kind geboren hatte - wird über diese endgültige Maßnahme der Sterilisation "gegen den Willen der Betroffenen - bzw. ihres gesetzlichen Vertreters" in erster Instanz entschieden … 

 
Und Erna selbst - sie lacht bei der Anhörung vor lauter Aufregung und Verlegenheit und Einschüchterung zwischendurch einmal ob dieser surreal anmutenden Situation auf.

 

Und auf die Frage der Herren, warum sie denn ausgerechnet jetzt lache, antwortet sie schlagfertig mit dem eigentlich tiefgründigen Satz : 
„Mein Lachen ist Weinen“

 

  • In der Beschluss-Fassung steht dazu der Vermerk: 

„In der mündlichen Verhandlung machte Erna Kronshage einen gespannten Eindruck und lachte ohne Grund auf. Sie äußerte, ihr Lachen sei Weinen“...

 

Und dieses Verhalten wird jetzt von den hochbesetzten Erbgesundheitsgerichts-Richtern eugenisch-psychiatrisch-pathologisch gedeutet, um die von Ernas Vater im Vorfeld der Verhandlung angezweifelte „Schizophrenie“-Diagnose des Gütersloher NS-Oberarztes Dr. Werner Norda noch einmal mit Nachdruck "fach-männisch" als Experten auf diesem Gebiet zu unterstreichen.


Doch die 20-jährige Erna lacht ja auch, um nicht losheulen zu müssen, weil sie sich ihrer Tränen vor diesen sie mit Blicken durchbohrenden Männern in dieser in jeder Hinsicht ungleichen Begegnung schämen würde, denen sie da bei einem solch heiklen und existenziell intimen Thema doch recht allein und ungeschützt ausgeliefert ist…

 

in erbbiologischen fragen zum gesunden volkskörper "top" ausgebildet

 

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ich stelle mir das mal so vor: 

 

da hatte die nsv-fürsorgerin - die sogenannte "braune schwester" wegen ihrer braunfarbenen schwesterntracht - ihren routine-rundweg durch die gemeinde fast abgeschlossen. und nun - bei anna kronshage - stellte sie wie immer so gegen elf ihr dienstfahrrad unter - und fuhr dann mit dem zug weiter nach windelsbleiche oder brackwede.

 

sie hatte alles fest im blick - und sie war damals ja in erbbiologischen fragen zum gesunden volkskörper "top" ausgebildet. ja - man hatte ihr das ja "vom einsatzbüro" im gesundheitsamt mit auf den weg gegeben: "schau nach diesen 'volksschmarotzern'": gerade auf den etwas abgelegenen gehöften - denn dort werden die gerne von den eltern oder geschwistern abgeschirmt und regelrecht versteckt... - und guck auch nach den ostarbeitern, die lassen sich gern mal hängen ...

 

 achtet also auf die infragekommenden kandidaten, die von der norm abweichen, mit denen man nichts anfangen kann, mit denen "kein krieg zu gewinnen ist": unnütze esser - und die man dann über den amtsarzt einer unfruchtbarkeit zuzuführen hat mit dem  erbgesundheitsgericht - ruck zuck, sonst liegen die uns auf der tasche.

 

 die familien selber kümmern sich da nicht. die wollen sich die hände nicht schmutzig machen. ja - das müsst ihr machen - ihr jungen schwestern, denn ihr habt jetzt den richtigen blick dafür.

 

 "na, anna - wie geht's - was machen deine söhne draußen im feld?" "ach, unser ewald hat gestern noch per feldpost geschrieben aus russland - und von willi erwarten wir jeden tag post ... - aber schwester - ich brauche da mal einen rat: unsere erna steht morgens nicht mehr pünktlich zur arbeit auf - sie quängelt und widersetzt sich und hat nur noch flausen im kopf - sie will eine ausbildung machen - und meint, hier auf'm hof, das wäre auf dauer nicht das richtige für sie ... - sie will raus - sie würde ausgenutzt - und träumt - und tut nicht mehr recht ihre arbeit - und klüngelt herum: faules fieber...

 

 stellen sie sich das mal vor: als ich sie gestern mal ein wenig angetrieben habe, sie solle etwas schneller machen - da hat sie mir doch tatsächlich gedroht - und die hand gegen ihre eigene mutter gehoben, gegen ihr eigen fleisch & blut" ...

 

 

Brosche: Freie NS-Schwesternschaft

 

Hier illustrierendes Bildmaterial zur Rolle der sogenannten "Braunen NS-Schwestern" in der Krankenpflege und in der Orts-"Fürsorge":

  • Eingerahmt von zwei NS-Schwestern (links die NS-Brosche an der Schwesterntracht) die Kinderärztin Dr. Lotte Albers, die mindestens 14 behinderte Kinder tötete (!), untersucht für eine NS-Propaganda-Fotoaufnahme ein Kind in den 1940er Jahren - Foto: Andreas Babel (Sammlung Lotte Albers)

Dr. Lotte Albers (1911-1992), als Tochter eines Ostindien-Kaufmanns in Hamburg 1911 geboren, tötete damals mindestens 14 Kinder im ehemaligen Kinderkrankenhaus Rothenburgsort. Noch während des Krieges wechselte sie ans Krankenhaus Barmbek, wo sie noch bis mindestens 1948 tätig war. 

Nahezu 30 Jahre lang  - bis in die 1970er - arbeitete sie schließlich völlig unbehelligt als niedergelassene Kinderärztin in Harburg in ihrer Praxis am Schloßmühlendamm (!), in einem der wenigen erhaltenen, alten Gebäude des Stadtteils, über der ehemaligen Löwenapotheke. Sie war mit einigen Kinderkrankenschwestern des KKR weiterhin befreundet, am besten mit Gudrun Kasch (evtl. auch mit auf dem Foto), die dabei mithalf, die Kinder zu töten, indem sie sie festhielt, während die Ärztin die Spritze verabreichte. Kasch war nach dem Krieg als Sprechstundenhilfe für Albers tätig. Lotte Albers starb 1992 in ihrer Heimatstadt, der sie ihr Leben lang treu geblieben war. 

Sie hinterließ Fotoalben, die von ihrer Mediziner-Laufbahn zeugen. Mehr zu ihr in: "Kindermord im Krankenhaus" von Andreas Babel, ​S. 78 bis 89.

 

 

 

und hilf bitte mit, dass erna's story nicht vergessen wird: erzähl sie weiter

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© eddywieand-sinedi