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 Edward Wieand: ERNA KRONSHAGE . Geboren 1922 - Ermordet 1944 . Mein Lachen ist Weinen . E-Book, umfassende Doku-, Text- & Bild-Collage in 26 Abschnitten - als permanente Blog-Veröffentlichung: click, 2010-2024 ff. 

 

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JETZT IST SCHLUSS

 

 

AfD und Erinnerungskultur

Jetzt ist Schluss

 

Mit der AfD soll man reden – aber wie redet die AfD? Eben noch erinnerten wir uns an die Novemberpogrome 1938, schon werden die neuen Rechten wieder aufmerksam umsorgt. Erschrickt man in diesem Herbst des Jahres 2025 nur noch, wenn man Jude ist?

 

von Alexander Estis

 

Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 27. November 2025

 

Wozu erinnern wir uns? Wozu ritualisiertes Erinnern? Wozu kollektives Gedenken?

Ist das nicht alles bloß Inszenierung, „Gedächtnistheater“, „Verstaatlichung des Gedenkens“ (Y. Michal Bodemann)? Routine des Rituals, phrasenartig, entleert, hülsenhaft, offen für jede Vereinnahmung? Was vermag Erinnerung, wenn sich ein Spitzenpolitiker der leider beliebtesten Partei in Sachsen-Anhalt – keine zwei Wochen nach dem Novembergedenktag – nicht dazu durchringen will, den Holocaust als größtes Menschheitsverbrechen einzuordnen? Was nützt Erinnerung, wenn danach all die, die gerade noch „Nie wieder“ durchskandiert haben, nicht sofort auf die Barrikaden gehen?

 

Wie bewährt sich Erinnerungspraxis denn zwischen den Mühlrädern der Ritualisierung und Relativierung? Ist einerseits nicht die Frage berechtigt, „wann die Deutschen ihrer Mahnmal-, Gedenk- und Erinnerungskultur ein eigenes Mahnmal widmen werden“ (Claudius Seidl)? Und leben wir andererseits nicht in Zeiten, in denen „jeder seinen eigenen nach Belieben ausgesuchten Holocaust hat“ (Anshel Pfeffer)?

 

So ist nicht nur Björn Höckes Ansprache zur „dämlichen Bewältigungspolitik“ wohlbekannt, sondern auch die neurechte Mär vom „Bombenholocaust“, der die Deutschen in einer absurden Pervertierung zu den eigentlichen Opfern des Zweiten Weltkriegs werden lässt. Aber auch Tierschützer, Klimaaktivisten, Dieselfahrer, Abtreibungsgegner, Impfskeptiker, Verschwörungsgläubige, AfD-Wähler, völkische Genossen, Putin-Versteher, Israel-Kritiker, vermeintlich propalästinensische Aktivisten, Hamas-Verharmloser und Islamisten eignen sich für ihre Agenda immer genau das Ereignis an, dessen Schrecken einzigartig ist. Mit Blick auf Äußerungen zum Gaza-Krieg sprach der Philosoph Thomas Meyer von einer „Gleichsetzungsmanie mit dem Holocaust“.

 

(Aus einem aktuellen Rias-Bericht: „Im Juni bemerkten in Leipzig Passantinnen neben einer Gedenkstätte für eine zerstörte Synagoge Aufkleber mit der Inschrift ‚one holocaust does not justify another‘.“)

 

Ritualisierung, Vereinnahmung und Instrumentalisierung entstehen, wenn etwas seinen ursprünglichen Zweck verliert. Gedenkkultur darf nicht demagogischen Zwecken dienen. Sie darf aber auch nicht primär pädagogischen Zwecken dienen.

 

Zweck der Gedenkkultur ist das Gedenken selbst. Ich gedenke meiner ermordeten Vorfahren nicht, um das Heute zu verstehen oder das Morgen zu ändern. Ich erinnere mich, weil sich zu erinnern menschlich ist und sich nicht zu erinnern unmenschlich. Das Gedenken ist ein absolutes Humanum, und erst als solches, frei von der Zweckzuschreibung oder Zweckentfremdung, wird es fähig, Wert und Würde des Lebens ins Bewusstsein zu heben.

 

Aber auch das Morgen kann man natürlich nicht außer Acht lassen. Man sitzt ohnehin einer optischen Illusion auf, wenn man glaubt, die Vergangenheit entferne sich kontinuierlich.

 

Wir wissen, der Raum ist krumm. Je ferner das Gestern nach hinten rückt, desto unmittelbarer schreitet es von vorn wieder auf uns zu. Wenn man noch immer nicht versteht, dass Pogromstimmung herrscht, während man die ersten Gläser schon kristallklar klirren hört, dann ist nicht nur das Gestern vergessen, sondern auch das Morgen verloren.

 

Gewisse Menschen wollen uns heute weismachen, dass nichts etwas bedeute: Das Gesagte bedeute nicht das Gemeinte, das Gemeinte bedeute nicht das Verstandene. Die Wörter bedeuten nichts, die Buchstaben bedeuten nichts, die Zahlen bedeuten nichts, Vergangenheit ist vergangen, Pogromstimmung bedeutet keinen Pogrom. Sie wollen nicht wissen, was die Dinge bedeuten. Sie wollen keine Bedeutung, sondern Umdeutung. Sie wollen keine Relation, sondern Relativierung. Das Größte wird zum Kleinsten, das Tiefste zum Flachsten, das Schwerste gering. Der Zivilisationsbruch zum „Fliegenschiss“ (Alexander Gauland), der Massenhass zum „Verbrechen einiger weniger“ (Hans-Thomas Tillschneider), das Gedenken an die Geschändeten zum „Denkmal der Schande“ (Björn Höcke).

 

Sie wollen den „Schlussstrich“ ziehen – um weiterzumachen.

 

Sie wollen den „Schuldkult“ beenden, um den Blutkult wiederzubringen. Sie verletzen „Denkverbote“, um das Gedenken zu zersetzen. Wer eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ (wieder Björn Höcke) vollzieht, der wendet sich nicht von einer Seite zur anderen, sondern stellt alles vom Fuß auf den Kopf.

 

Wer meint, er brauche nur „nach vorne blicken und nicht zurück“ (Ulrich Siegmund), hinter dem lauert, hinter dem rollt die Lawine. Diese Wender wollen die Verantwortung für die Wörter aufgeben. Sie wollen keine Bedeutung, sie wollen Entdeutung. Sie wollen nicht wissen, was die Dinge bedeuten, und sie wollen erst recht nicht wissen, was die Dinge für die Juden bedeuten.

 

Für uns Juden bedeutet alles etwas, und wenn etwas nichts bedeutet, dann hat das erst recht was zu bedeuten.

 

Für uns Juden hat alles eine Bedeutung: die Buchstaben, die Kleidung, das Essen. Das Essen bedeutet Geschichten, Geschichten bedeuten Warnungen, Warnungen bedeuten Sorge. Der Stern am Abendhimmel bedeutet Schabbat. Das Gebet mit verdecktem Kopf bedeutet Gottesfurcht. Die Flamme der Kerze über den Buchseiten bedeutet das Licht der Lehre. Die Zahlen bedeuten Buchstaben, die Buchstaben bedeuten Zahlen. Ein Freund von mir, ein Schriftsteller, hat einmal ein Buch gemacht, einen riesigen Band, das keine Buchstaben hatte, sondern nichts als Zahlen, sechs Millionen Zahlen.

 

Am Anfang, im November 1938, standen andere Zahlen: fast anderthalbtausend Todesopfer. Fast anderthalb-tausend zerstörte Gebetshäuser. Fast dreißigtausend Deportierte. Zehn Prozent der deutschen Bevölkerung: Mittäter.

 

Diese Zahlen bedeuten etwas. Alles bedeutet etwas. Die Flamme der Kerze über den Buchseiten bedeutet das Licht der Lehre, aber die Flamme in den Buchseiten bedeutet das Ende der Lehre. Das Gebet mit verdecktem Kopf bedeutet Gottesfurcht, aber das Gebet mit verstecktem Kopf bedeutet Furcht nicht vor Gott. Der Stern am Abendhimmel bedeutet Schabbat, der Stern an deiner Tür bedeutet alles andere als Schabbat.

 

Für uns Juden bedeutet wie gesagt alles etwas, und wenn etwas nichts bedeutet, dann hat das erst recht was zu bedeuten. Denn das Ende aller Bedeutung ist der Pogrom. Danach ist jedes Wort ein anderes, auch wenn es ein und dasselbe ist. Danach sind die Hauptwörter plötzlich keine Hauptwörter mehr, sondern höchstens Nebenwörter und Kleinwörter. Worte sind keine Worte mehr, sondern Klagen, Klagen sind keine Klagen mehr, nur ein Stöhnen, das Stöhnen ist kein Stöhnen mehr, nur ein Zittern; das Zittern ist nur ein Erzittern, das Erzittern nur ein Erinnern.

 

87 Jahre seit den Novemberpogromen. Mehr als hundert rechtsextremistische Straftaten pro Tag. Achteinhalbtausend antisemitische Vorfälle in einem Jahr. Ständige Angriffe auf Gedenkstätten, fast jede Woche Anzeigen in Buchenwald. 30 Prozent AfD-Sympathisanten in Deutschland, Unternehmerfamilien, die die Gesprächskanäle zur AfD offen halten, Konzerne, die schon einmal mit der Machtübernahme dieser Partei kalkulieren Es gilt in diesen Tagen also nicht weniger, als zu lernen, die Schwere des Erinnerns zu tragen.

 

Denn nur diese Erinnerungsschwere erhebt uns zum Menschsein, während die Leichtigkeit des Vergessens uns weiter abwärts drückt in eine kriechtierische Unbewusstheit. Wie aber können sich spätere Generationen erinnern, wie können die Jungen gedenken, wenn alles, was sie erinnern könnten, zerrinnt, wenn die Bilder verblassen, die Wörter im Rauschen untergehen, wenn die Bedeutung sich immer weiter verengt, bis sie ein beliebiger Punkt am Horizont wird, statt Fluchtpunkt zu sein? Die letzten Zeugen verlassen uns. „Wer zeugt für die Zeugen?“ (Paul Celan) Den Jungen bleibt, die Erinnerung an die Erinnerung zu bewahren.

 

Es gibt ein altes Gleichnis, das ich einmal gelesen habe und an das ich mich nur noch ungefähr erinnern kann. Darin heißt es: Wir hatten einst einen Tempel, in dem wir beteten. Der Tempel wurde zerstört, aber wir kamen noch an den Ort, wo der Tempel stand. Wir wurden von dem Orte verbannt, aber wir erinnerten uns noch an die Worte des Gebets. Die Worte des Gebets gingen verloren, aber wir erzählen uns noch dieses Gleichnis.

 

Bedeutung ist, wenn etwas für etwas anderes steht. Wenn unsere Existenz Bedeutung haben soll, müssen wir wissen, wofür wir stehen. Sonst haben wir einen schlechten Stand.

 

Um zu wissen, wo wir stehen, müssen wir wissen, wer vor uns hier stand. Wir müssen verstehen, wofür wir einstehen müssen. Wir müssen einstehen dafür, was wir verstanden haben.

 

Was aber können wir verstehen über das Erinnern? Vielleicht nicht mehr und nicht weniger als diese Frage und diese Antwort. Der Rabbi fragte seinen Schüler: „Erinnerst du dich?“

„Woran?“, fragte dieser zurück. „Genau daran musst du dich erinnern“, so die Antwort.

 

 

  • Dieser Text ist die leicht veränderte Fassung einer Rede, die der Autor kürzlich in Dresden gehalten hat – an jener Stelle, wo die Dresdner Synagoge stand, bis sie bei den Pogromen 1938 niedergebrannt wurde.

 

 

 

 

 

Alexander Estis, 1986 in einer jüdischen Familie in Moskau geboren, ist Schriftsteller und Kolumnist. Zuletzt erschien „Schergenstaat Russland. Ideologie, Propaganda, Repression und Widerstand“ (NZZ Libro 2025).

 

(Foto: Magnus Terhorst)

AfD und Erinnerungskultur Jetzt ist Schluss www.sueddeutsche.de/kultur/dresd...

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— Kein Vergessen | Kein Beschweigen (@edwieand.bsky.social) 28. November 2025 um 00:11
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