ZEITZEUGENSCHAFT - Die Zukunft in Druckbeiträgen, als Videoaufzeichnungen & Hologramme
Wie berichten wir authentisch über NS-Euthanasie & Holocaust, wenn die Zeitzeugen eines Tages nicht mehr da sind? Das ist ja - auch angesichts der "Das-war-nur-ein-Vogelschiss"-Metapher eines Bundestagsabgeordneten namens Gauland - die Frage, die sich viele Pädagogen, Historiker, Archivare, Museen, Gedenkstätten und nicht zuletzt viele seriöse Politiker aller bürgerlich-seriöser couleur stellen.
Und wozu eben auch diese hier verlinkten Seiten zu "Erna' Story" einen Beitrag leisten sollen, in der Hoffnung, dass das Internet ja (in diesem Falle: 'hoffentlich') "nichts vergisst" - und alles irgendwie und wo auch immer archiviert und versiegelt daliegt oder kopiert aufgezeichnet wurde, so dass man es bei aktiver Recherche noch jahrelang auch aufzustöbern und abzurufen vermag oder im eigenen Fundus lagert.
Einen ersten wenn auch umstrittenen Lösungsweg bieten neuerdings Gedenkstätten und Museen an - z.B. das Holocaust Museum in Chicago mit der von Steven Spielberg ins Leben gerufenen USC Shoah Foundation - und hier in Deutschland die KZ-Gedenkstätte in Dachau in Zusammenarbeit mit dem Projekt "LediZ" der Ludwig-Maximilians-Universität München - um mit den betagten Zeitzeugen ein umfassendes Antwortenarchiv virtuell und digital zu erfassen, um dann die mit "maschinellem Lernen" und "Künstlicher Intelligenz" (KI) produzierten dreidimensionalen lebensechten Personenbild-Hologramme und den beliebig kombinierbaren interaktiven Antworten dazu die spontanen Fragen von Interessenten jeweils "hautnah" und "lebendig" zu beantworten, so wie das die "Technik" ganz neu ermöglicht.
Bei aller gebotenen Skepsis zum Umgang mit nichtlebenden "Sprachrobotern", scheint mir dieser Ansatz aber doch äußerst spannend - und zukunftsweisend - ich bin gespannt ... -
Doch zunächst sei auf eine Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg hingewiesen, die sich diesem Thema insgesamt stellt...:
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Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen:
vom Kassettenrecorder zum Hologramm
Vortrag von Albert Lichtblau (Salzburg)
Der neueste Schrei, etwas gegen das Aussterben zu unternehmen, sind 3D-Hologramme. Sie simulieren Gespräche mit Holocaust-Überlebenden. In Ausstellungen scheint es dann, als würde die gefilmte Person
real im Raum sitzen und auf Fragen des Publikums antworten können. Über Spracherkennungssoftware werden die Fragen des Publikums einer Antwort der Hologramm-Überlebenden zugordnet. Die dafür
interviewten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen wurden mit ca. 50 Kameras aufgenommen und antworteten über mehrere Tage hinweg auf mehr als 2000 Fragen. Irgendwie wirkt es gespenstisch, auf diese Art und
Weise Überlebende unsterblich machen zu wollen.
Der Kampf gegen das Verschwinden der Überlebensgeschichten begann in Österreich Ende der 1970er Jahre und der Vortragende nahm daran aktiv teil. Wie sich aus Einzelaktivitäten größere Projekte
entwickelten und wie sehr die technischen Entwicklungen dabei eine Rolle spielten, wird Thema sein, genauso wie die schwierige Suche nach Archivorten für die aufgenommenen Gespräche. Was kam dabei
raus, wo stehen wir heute und welche Visionen gibt es für die Arbeit mit diesen wichtigen historischen Dokumenten?
Albert Lichtblau, Studium der Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien, Universitätsprofessor im Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte und
Publikationen: Oral History, Migration, Nationalsozialismus, Rassismus, Erinnerungspolitik.
Eine Veranstaltung im Begleitprogramm zur Ausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft?“
Ein Wegweiser in die Zukunft???:
Schüler fragen - und der virtuelle Zeitzeuge antwortet ...
Remix der Erinnerung
In einer Welt ohne Zeitzeugen brauche es ein kreativeres Gedenken an die Schoa, sagen manche. Sind Hologramme eine gute Idee? Unter Zeitdruck wird nach der
richtigen Technologie und Philosophie gesucht.
Von Victor Sattler, F.A.Z. - Feuilleton - Montag, 16.11.2020 -
Wurde in Ihrer Familie über die Schoa gesprochen?“, fragt ein Besucher. Vor allem Jiddisch habe seine Familie gesprochen, antwortet ihm das Hologramm
irrtümlicherweise. Einige Gäste lachen über den Fehler und über den alten Mann, der da aus dem Licht des Projektors blickt. Anja Ballis von der Universität München sieht in seinem digitalen
Gedächtnis nach, was bei der Beantwortung schiefgelaufen sein könnte. Auf ihrem Laptop führt sie eine Liste über sämtliche Fragen, die das Hologramm bisher verstehen kann. Die Liste ist
schon weit gediehen, seit Ballis zum ersten Mal mit Zeitzeugen der Schoa in Schulklassen ging und – ohne damals zu wissen, wozu es ihr heute dient – begann, sich die Fragen der Schüler zu
notieren.
Mittlerweile ist dieses Dokument das Skript zu einer ungewöhnlichen Premiere, als die KZ-Gedenkstätte Dachau im Oktober erstmals den Einsatz von digitalen Zeitzeugen testet, wie sie eines Tages und dann auf ewig in allen deutschen Schulen gleichzeitig sein könnten. Die Zeugen sind Eva Umlauf und Abba Naor, das Jahr ist 2018 und der Ort das englische York, wo Umlauf und Naor je eintausend Fragen vor der Kamera beantworteten. Seitdem existiert von beiden ein Hologramm, das scheinbar vor der Leinwand in der Luft schwebt. Mit einer 3D-Brille werden die Hände plastisch, wie sie auf den Lehnen eines roten Sessels ruhen, und mit der Zeit werden die Finger ungeduldig, denn der Computer wartet auf Anweisungen. Gleich lernt die Spracherkennung wieder etwas dazu: Ballis flüstert dem Besucher, der gefragt hatte, eine bessere Formulierung ein und empfiehlt ihm, Pausen zwischen den Wörtern zu machen, damit Naor ihn diesmal versteht – damit Naors Hologramm ihn versteht, muss es natürlich richtig heißen.
„Sie ist noch nicht so weit in der Entwicklung“, sagt sie über das zweite Hologramm. Eva Umlauf ist eine Münchner Kinderärztin mit jüdisch-tschechischer Herkunft. Im Jahr 1942 im Arbeitslager Nováky geboren und 1944 mit ihrer Mutter nach Auschwitz deportiert, war sie einer der letzten und einer der jüngsten Menschen, denen dort eine KZ-Nummer tätowiert wurde. Über ihre Jugend, ihr Medizinstudium und ihre zwei Ehen hinweg sei die blaue Nummer mit ihr gewachsen, erzählt sie. Ihre Persönlichkeit und ihre naturwissenschaftliche Denkweise stecken auch in ihrem Hologramm. Während Abba Naor gern einen philosophischen Bogen schlägt, der die Gäste rätseln lässt, ob das System die Frage missverstanden hat, ist Umlaufs Stil präziser. Einmal wird ihr Hologramm nach seiner Einstellung zu dem Projekt selbst befragt. Die Antwort, die sie darauf in York gab, ist so differenziert, dass sie die aktuelle Debatte über neue Formen des Gedenkens mit ihren Sorgen und Hoffnungen gut widerspiegelt. Erst ihre Söhne konnten Umlauf dazu überreden, ein Hologramm zu werden.
War es die richtige Entscheidung? Die politische Didaktik steht an einem Scheideweg. Nicht schlagartig, aber schleichend endet eine jahrzehntelange Praxis, in der Zeitzeugen die Autoritäten des Schoa-Gedenkens waren. Was folgt, wird als eine „Ära des Remix“ bezeichnet, in der sich die Gesellschaft im Umgang mit den Zeugnissen kreative Freiheiten herausnimmt. Aus der Fülle an Geschichten, die sie hinterlassen, kann alles ausgewählt, passend gemacht und neu kombiniert werden. So könnten die Hologramme in Zukunft in 4D-Landschaften sitzen oder als Avatar wie ein Menüknopf durch historische Quellen führen. In den Künsten ist der Remix weit verbreitet und lotet seit jeher die Grenzen von Urheberschaft aus. Beim Gedenken an die Schoa ruft er sowohl Pioniere wie Anja Ballis als auch deren erklärte Gegner auf den Plan.
Einen Avatar
muss man nicht siezen
Kinder duzen das Hologramm. Das überraschte die Forscher, ist aber in ihrem Sinn. Sie möchten Hemmschwellen senken und testen, ob dann auch Fragen gestellt werden, die man im Gespräch mit der realen Person pietätlos fände. Allerdings macht das Hologramm nicht alles mit, was die Technik gestatten würde. Fragen zur israelischen Siedlungspolitik werden akustisch erkannt, doch lehnt Abba Naor die Beantwortung ab.
Auch Eva Umlauf macht einmal ihrem Ärger über eine schwammige Formulierung Luft. Bei solchen Absagen habe das Forscherteam nie insistiert, denn sein oberstes Gebot sei es gewesen, keinen Einfluss auf die Zeugnisse zu nehmen. Damit sie nicht unter den Verdacht eines „Deep-Fakes“ geraten – der künstlichen Generierung neuer Inhalte –, wacht zum Beweis das Leibniz-Rechenzentrum Garching über zwanzig Terabytes an Videoaufnahmen. Die Versuchung wird größer, je länger die Hologramme altern. Bereits jetzt haben sie ihre Defizite: Am ersten Jahrestag des Anschlags von Halle wollen manche Besucher nach etwas fragen, über das Umlauf und Naor 2018 noch nichts wissen konnten. Für eine Ergänzung um weitere, authentische Antworten bleibt jedoch wenig Zeit.
Dabei bedeutet ein Remix des Gedenkens nicht zwingend, dass technische Innovationen nötig wären. Die badische Stadt Walldorf erprobt ganz analog, wie man an die jüdische Schriftstellerin Gerda Weissmann erinnern könnte. In den Vereinigten Staaten, wo die 1924 geborene Polin heute lebt, ist sie eine prominente literarische Stimme der Schoa-Überlebenden, hierzulande ist sie kaum bekannt. Eine Theatergruppe inszeniert deshalb verschiedene Briefwechsel, die Weissmann gesammelt herausgab, verleiht den Passagen eine eigene Form und stellt sie anderen gegenüber. Alles ist beliebig miteinander kombinierbar. Die Schauspieler geben ihr Mögliches, doch nach der Vorstellung im Juli findet Wolfgang Widder, dass da noch mehr gehe. Gemeinsam mit der Universität Heidelberg bemüht er sich um eine Übersetzung von Weissmanns Werk ins Deutsche, solange die 96 Jahre alte Autorin noch dabei behilflich sein und Originaldokumente übergeben kann. Man müsse die Texte theatralischer und mit Kulissen aufführen, sagt Widder, damit es die heutige Jugend erreiche. In Arizona, wo die Produktion ihr Vorbild hat, habe man aus diesem Stoff schon mehr herausgeholt, in Deutschland empfinde man hingegen schnell Überdruss. Nur so sei der Verlust von Weissmanns Literatur zu erklären.
Ihr Debütroman „All but my life“ erschien seit 1957 in 66 Auflagen und wird in einer Reihe mit dem Tagebuch der Anne Frank genannt. Hinweise darauf, dass sie ihrem Wesen nach eine Literatin ist, gab es lange davor. Als ihr späterer Ehemann sie bei Volary aus ihrem Todesmarsch befreite, soll Weissmann an Ort und Stelle Goethe zitiert haben. Im Zwangsarbeitslager Bolkenhain verfasste sie mehrere Theaterstücke und gründete einen Club, der sich mit griechischen Sagen bei Laune hielt, in abgewandelter Form kamen auch die Wärter darin vor. Mit polnischen Wortschnipseln setzte sie die letzten Pointen. Jahrzehnte später gewann die Verfilmung ihres Buchs einen Oscar.
Die Vereinigten Staaten verfolgen in ihrer Erinnerungskultur einen theatralischeren Ansatz, sagt auch Markus Gloe, der mit Anja Ballis die Hologramme betreut und dafür amerikanische Kollegen besuchte. Deren Gedenkveranstaltungen gelten ihm seitdem als abschreckendes Beispiel. Um eine Haltungsänderung bei den amerikanischen Jugendlichen zu bewirken, setze man sie gezielt einer emotionalen Überwältigung aus. In Deutschland verbietet das der Beutelsbacher Konsens von 1976. Die Rolle, die Emotionen beim Lernen spielen, ist zwar erwiesen, doch dürfe nicht instrumentalisiert werden. „Tränen bilden nicht“, warnt Gloe.
Als Eva Umlauf am 2. November 1944 in Auschwitz ankam, waren die Vergasungen soeben beendet worden. Der KZ-Arzt Josef Mengele behandelte sie auf seiner Krankenstation. Noch sechzehn Tage zuvor war eine von Mengeles Versuchspersonen wie so viele andere ermordet worden: Die ungarische Jüdin Éva Heyman starb mit dreizehn Jahren in einer der letzten Vergasungen von Auschwitz. Sie hinterließ nichts als ein Tagebuch. Erst 2019 wurde ihr eine späte Ehre zuteil, die sie heute zu einer der reichweitenstärksten Zeitzeuginnen macht.
Mit dem Smartphone
die Deportation dokumentieren
Mit einem Millionenbudget verfilmte der israelische Unternehmer Mati Kochavi ihr Tagebuch in Form eines Instagram-Profils, das weltweit Millionen von Klicks erhielt. Die junge Darstellerin der Éva tritt darin zugleich als Urheberin der siebzig kurzen Videoepisoden auf, in denen sie die letzten Monate vor ihrer Deportation aus Selfie-Perspektive filmt, ihr Leben mit Erdbeeren oder Regenbögen schmückt und Gettoszenen mit Hashtags überschreibt. Dass Éva von einer Karriere als Fotojournalistin geträumt hatte, diente der Produktion auch als Rechtfertigung. Wurde mit dem Smartphone zwar ein Fremdkörper in die vierziger Jahre gedichtet, so sei man in diesem Remix zumindest der echten Heyman treu geblieben.
Dreißig Tagebücher hatte Kochavi gelesen, bevor er sich für ihren Stoff entschied. Weitere Instagram-Profile sollen nun folgen, sagt er im September, obwohl das Projekt kontrovers diskutiert wird. Einige Israelis sehen in dem neuen Format eine Geschmacksverirrung und nahmen Anstoß an der aggressiven Werbekampagne. Kochavi gibt sich unbeirrt – er weiß um die Kehrseite der Medaille. Bei den Dachauer Hologrammen, die eigentlich futuristischer als Instagram sind, bemängeln viele Besucher den roten Sessel, weil sie ihn altmodisch und „märchenonkelhaft“ finden. Das zumindest kann Kochavi nicht passieren. Doch auch die Münchner halten an ihren Überzeugungen fest. Markus Gloe sagt, der Sessel solle ausdrücklich ein konservatives Szenenbild als Gegengewicht zu Social Media und Hollywood-Effekten schaffen.
Schließlich kommt Eva Umlauf persönlich durch den strömenden Regen in das ehemalige KZ Dachau, um den Platz ihres Hologramms in besagtem Sessel einzunehmen. Das Forscherteam ist begeistert darüber, wie nah die reale Fragerunde an die Simulationen der vorigen Tage heranreiche. Nach Ende der Veranstaltung bildet sich sogar eine lange Schlange neben der Bühne, da Umlauf den Sessel auch wieder zu verlassen wagt. Automatisch fragt man sich bei diesem Anblick, ob je ein anderes Format die gleiche Wirkung erzielen wird. „Dieselbe Frage habe ich auch Ihrem Hologramm gestellt!“, sagt ein Mann, nachdem er zum zweiten Mal eine Antwort erhalten hat. „Was habe ich denn geantwortet?“, fragt Umlauf und meint damit ihr Hologramm. Sie muss es wohl schon vergessen haben. „Heute waren Sie ein wenig optimistischer“, sagt er.
KZ-Gedenkstätte Dachau
Digitales Zeugnis Holocaust-Überlebender
Wie durch ein Wunder hat Eva Umlauf als Kleinkind das Vernichtungslager Auschwitz überlebt. Im Kinosaal der KZ-Gedenkstätte Dachau beantwortet sie Fragen der
Zuhörer. Diese Aufgabe übernimmt eines Tages ihr Hologramm
Von Johanna Hintermeier, Dachau - Süddeutsche Zeitung, 12.10.2020 (click)
Eva Umlaufs zierliche Gestalt versinkt beinahe in dem großen roten ledernen Ohrensessel. Doch mit fester Stimme, das Mikrofon lässig in der Hand, liest sie aus ihren Erinnerungen an ihre Kindheit im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, die unter dem Titel "Die Nummer auf deinem Unterarm ist blau wie deine Augen" erschienen ist. Unter den etwa 50 Besuchern im Kinosaal der KZ-Gedenkstätte Dachau sind am vergangenen Samstag auch sehr viele junge Menschen.
Die Nummer auf dem Unterarm ist die Häftlingsnummer A-26959, die Eva Umlauf als fast zweijähriges Kind im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau tätowiert wurde. Ján Karšai, ein Freund Umlaufs, verfasste ein Gedicht über ihre Zeit dort, der Titel war namensgebend für die 2016 beim Verlag Hoffmann und Campe erschienene Autobiografie. Heute, sagt Umlauf, sei die Farbe auf ihrem Arm wie die ihrer Iris verblasst.
Was nicht verblassen und vergessen wird, ist die Lebensgeschichte und Wesensart Eva Umlaufs. Um dies sicherzustellen, hat ein Forschungsteam der Ludwig-Maximilians-Universität München ein Hologramm der Zeitzeugin erstellt. Die digitale Eva Umlauf sitzt im selben roten Ohrensessel und antwortet interaktiv auf Fragen, die ihr Besucher in der Ausstellung "Digitales Zeugnis" in der KZ-Gedenkstätte stellen. Es gibt viel zu berichten.
Geboren ist sie 1942 im Arbeitslager Nováky in der ehemaligen Slowakischen Republik. Ihre Mutter ist 21 Jahre alt und erneut schwanger, als sie mit der kleinen Eva nach Auschwitz transportiert wird.
Eine Fahrt in den sicheren Tod, denn Schwangere und Kinder die keine Zwangsarbeit verrichten können, werden in der Regel sofort vergast. Das schiere Glück rettet der Kleinfamilie das Leben. Am 31.
Oktober 1944, als die Rote Armee auf dem Vormarsch ist, stellt das NS-Regime die Vergasung ein und versucht so, die Massenvernichtung zu vertuschen und Beweismaterial zu vernichten.
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Am 2. oder 3. November 1944 erreichen Eva und ihre Mutter Birkenau - die Forschung nennt diesen Zug heute den "glücklichen Transport". Als Eva bei der Ankunft die
Häftlingsnummer gestochen wird, fällt sie in Ohnmacht. Ein Arzt, selber jüdischer Häftling, sagt ihrer Mutter bei einer Untersuchung: "Vergessen Sie das Kind, es wird nicht leben." - "Die Liste mit
meinen Krankheiten war länger als die Zeilen auf der Krankenakte", erklärt Eva Umlauf heute. Sie schafft es, allen Widerständen zum Trotz. Und sie wird Kinderärztin.
Es ist eine ehrgeiziges Biografie: Studium der Medizin in Bratislava, dann zieht sie zu ihrem ersten Mann, selbst Holocaust-Überlebender nach München, in "das Land der Mörder", wie sie sagt. Sie wird Anfang der 1970er-Jahre Assistenzärztin für Pädiatrie - zu einer Zeit, in der die wenigsten Mütter einen Beruf ausüben. Ihr erster Mann stirbt bei einem Unfall. Die Ehe mit dem zweiten Mann geht in die Brüche. Umlauf wird in München heimisch, sie leitet eine Kinderarztpraxis und schließt eine Zusatzausbildung zur Psychotherapeutin ab.
Sie blickt nicht oft zurück. Das Verdrängen der Vergangenheit war ihr gewissermaßen anerzogen worden in einer Nachkriegsgesellschaft, in der das Schweigen auf Opfer- und
Täterseite perfektioniert wurde. So auch in Umlaufs Familie: "Meine Schwester und ich fragten meine Mutter wenig nach Auschwitz, denn intuitiv spürten wir, dass wir nicht fragen sollten", resümiert
Umlauf.
Erst in ihrer dritten Schwangerschaft mit 42 Jahren holen sie die Erlebnisse als Kleinkind im Holocaust ein: In ihren Träumen sieht sie, wie Säuglinge in lodernde Feuer geworfen werden, sie leidet unter schweren Angstzuständen, fürchtet, ihr Kind zu verlieren. Als dieses dann krank zur Welt kommt und im ersten Lebensjahr teilweise beatmet werden muss, schläft sie nicht mehr. Sie habe damals oft an ihre eigene Mutter gedacht, erzählt Umlauf, die sie nach dem Überleben von Auschwitz und der Krankheiten der Tochter als übermäßig protegierend beschreibt - eine Helikoptermutter, würde man heute sagen. Erst nach einem Herzinfarkt im Jahr 2014 entscheidet sich Umlauf, ihrer "zerstörerischen Gefühlserbschaft", wie sie es nennt, nachzugehen und ein Buch zu schreiben. "Der innere Abstand zu dieser schmerzlichen Erfahrung und die persönliche Reife hatten zuvor gefehlt", sagt Umlauf. In ihrem Rechercheprozess erfährt sie endlich, wie und wo ihr Vater starb: an einer Blutvergiftung in Melk, einem Außenlager des KZ Mauthausen in Österreich.
Ihre Familie sei über das Thema näher zusammengekommen, sagt Eva Umlauf. Die Vergangenheit wurde für sie zur Erklärung für die Gegenwart. "Ich erkannte an, dass der Holocaust mich als kleines Kind geprägt hat und mich nicht losließ", sagt die Kinderärztin und Psychotherapeutin. Das Publikum ist sichtlich bewegt von der Erzählung. Es werden persönliche Fragen gestellt, die Zeitzeugin antwortet ausführlich und voller Energie.
Ihr Hologramm wird das stellvertretend für sie tun, wenn sie den Raum verlässt oder irgendwann nicht mehr persönlich ihre Geschichte erzählen kann. Die Idee des
Forscherteams des Lehrstuhls für Didaktik der Ludwig-Maximilians-Universität war, dass nachfolgende Generationen nicht nur in Büchern oder Videos von Zeitzeugen hören, sondern sich mit ihnen
unterhalten können. 2019 wurden Eva Umlauf und der Shoa-Überlebende Abba Noar im berühmten Pollen Studio in London stereoskopisch gefilmt, also zweidimensional, sodass ein räumlicher Eindruck
entsteht. Auch die Hologramme sitzen im roten Ohrensessel. Das Forscherteam unter Leitung von Anja Ballis und Markus Gloe hat den Überlebenden 1000 Fragen gestellt und die Antworten gefilmt. Mit
Hilfe einer Spracherkennungssoftware wurden die Daten so trainiert, dass die Hologramme nun direkt auf Fragen antworten können. Die Professorin Ballis betont, dass durch die Hologramme das eigene
Narrativ der Zeitzeugen sichtbar gemacht werden könne.
Eva Umlauf sagt, sie sei dem ganzen Projekt sehr kritisch gegenübergestanden - zu unlebendig findet sie sich auch heute als Hologramm. Trotzdem sei sie froh, dass diese moderne Technik für ihre Geschichte und das Erinnern an die Shoa genutzt werde. Abba Naor, der aufgrund der Pandemie in Israel ist, spricht von der Leinwand aus. Seiner Tochter soll er gesagt haben, dass, falls sie nach seinem Tod mal Sehnsucht nach ihm verspüren sollte, sie ja einfach mit dem Hologramm reden könne. So makaber das für diejenigen klingen mag, die noch Zeitzeugen erleben dürfen, umso wichtiger werden die Hologramme für die zukünftige Erinnerungskultur werden. Die echten Menschen aber, denen gilt es zuzuhören, solange es möglich ist. Das hat die Lesung mit Eva Umlauf eindrücklich gezeigt.
VON LORENZ HEMICKER UND KATHRIN JAKOB
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Wie es zu dem Projekt kam, was die Suche nach Gesprächspartnern nach so langer Zeit bedeutete und vor welchen Herausforderungen die Arbeiten im Zeichen der Corona-Krise standen, darüber sprechen
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