In der Sonntagszeitung der FRANKFURTER ALLGEMEINEN (F.A.S.) vom 29.11.2020 fand ich diese eindrückliche und in vielerlei Hinsicht aufschlussreiche Spurensuche zu einem Familiengeheimnis:
Für Elise
Über seine Ururgroßmutter wurde nie gesprochen: In der Psychiatrie war sie wohl, in der Nazizeit. Hat man sie ermordet? Und warum ist das Verbrechen zum
Familiengeheimnis geworden?
Eine Spurensuche von Timo Steppat
F.A.S. - Rubrik: Leben, S. 11 u. 12 - Sonntag, 29.11.2020 (click)
„Manchmal frage ich mich, ob der Wahnsinn in unserer Familie steckt“, sagt Oma.
Unser Telefonat begann wie immer. Oma wollte wissen, was ich mache, wie es mir geht, erzählte dann von sich und der Familie. So kam sie auf Monika. Seit ein paar Wochen verhalte sich ihre Cousine seltsam. Sie lasse den Herd an und erzähle später, Außerirdische hätten ihn angeschaltet. Monika höre Stimmen von Unbekannten, die ihr Befehle eingeben würden. Oma sagt, sie habe doch etwas tun müssen. Also habe sie beim Sozialdienst der Stadt angerufen und um Hilfe gebeten. Monika ist Mitte 70 und lebt allein, seit ihr körperlich behinderter Sohn vor einigen Monaten in eine Pflegeeinrichtung gezogen ist. Das Amt schickte einen Psychologen vorbei, dem Monika bereitwillig von den Außerirdischen erzählte. Eine Gefährdung erkannte der Mann nicht, ging aber davon aus, dass Monika schizophrene Schübe hat.
Oma sagt, seit sie von diesem Verdacht weiß, denkt sie häufig an ihre eigene Großmutter. Die soll schizophren gewesen sein, kam in die Psychiatrie und tauchte nie wieder auf. Oma fragt sich, wer sie wohl war und was genau mit ihr geschehen ist. Und ist der Wahnsinn, wie man es früher sagte, wirklich erblich? Ich halte das für Quatsch, aber wer weiß. Als wir aufgelegt haben, suche ich im Internet, was schizophrene Schübe bedeuten: einen Zustand zwischen Halluzination und Wahn. Man flüchtet in eine eigene Welt.
Als wir das nächste Mal telefonieren, frage ich Oma, was sie eigentlich über ihre Großmutter weiß. Viel ist es nicht. Elisabeth Westermann, genannt Elise, lebte mit ihrem Mann Wilhelm und den Töchtern Irmgard und Elisabeth in Oberhausen im Ruhrgebiet, bis sie Anfang der dreißiger Jahre in die Psychiatrie kam, nach Bedburg-Hau an der niederländischen Grenze. Dort starb sie einige Jahre später. Oma, 1939 geboren, hat Elise nie kennengelernt und auch jahrelang nicht erfahren, dass es sie gab. Ihr Großvater Wilhelm hatte die Haushälterin geheiratet, die Oma auch Oma nannte. Elise wurde nie erwähnt. Erst als Oma fast erwachsen war, mit 16 oder 17, erfuhr sie von der verschwundenen Frau, ihrer wahren Großmutter. Ende der dreißiger Jahre in einer Psychiatrie gestorben – mir fallen da direkt Nazis ein, die psychisch Kranke ermorden. „Das hab ich auch immer gedacht“, sagt Oma. Ich kenne meine Familie, die Geschichten, auch jene, die meine Oma erzählt hat. Wieso kam darin nie Elise Westermann vor? Es ist, als hätte man sie aus der Erinnerung gelöscht.
Oma findet meine Idee erst abwegig: „Jung, was soll das denn bringen?“, fragt sie. Dann beschließen wir trotzdem, gemeinsam nachzuforschen. In Bedburg-Hau steht noch heute eine Psychiatrie, ich rufe an. Ein paar Tage später erfahre ich per E-Mail, dass in den Akten eine Frau zu finden ist, die unter dem Namen ihres Mannes geführt wurde, Wilhelm Westermann. Am 21.7.1932 aufgenommen, 1939 nach Großschweidnitz in Sachsen verlegt, 1941 gestorben.
Mit ihrem Opel Meriva holt mich Oma vom Bahnhof in Moers ab. Ich setze mich ans Steuer. Eine dreiviertel Stunde Fahrt ist es nach Bedburg-Hau.
„Oma, warst du schon mal in einer Psychiatrie?“
„Nee, wieso? Du?“
„Nee.“
Oma erzählt, dass ihr beim Duschen einfiel, wie sie sich als Kinder gehänselt haben. Sie riefen: „Bedburg, mach die Tore auf, Lieschen kommt im Dauerlauf.“ Oder dass Leute gesagt haben, wenn sich jemand seltsam verhielt: „Der gehört nach Bedburg.“
Auf dem Weg werden die Felder weiter. Bedburg-Hau war in den sechziger Jahren die größte Psychiatrie Europas. Ein gutes Stück vom Rand des Ruhrgebiets entfernt hat man sie 1912 ins ländliche Nichts gesetzt. Als wären die Irren ansteckend.
Hohe Platanen und Eichen wölben sich über das Gelände, die meisten sind so alt wie die Anstalt selbst. Die Psychiatrie ist angeordnet wie ein Dorf mit überdurchschnittlich schönen Häusern. Es gibt zwei Cafés, einige Verwaltungsgebäude, eine Kirche, die eigentlichen Kliniken sowie einen Gebäudekomplex, um den Zäune und Stacheldraht stehen. Das ist die Forensik, sagt man uns später. Wenn über Bedburg-Hau berichtet wird, geht es meist um die straffällig gewordenen Patienten, denen ein Ausbruch gelungen ist. Der Rest der Psychiatrie ist offen gestaltet. Die Schranke des Pförtnerhäuschens – lange abmontiert.
In einem etwas unscheinbaren Gebäude befindet sich das Museum. Uwe Horschig empfängt uns. Er hat das Museum vor 25 Jahren aufgebaut, weil er die Psychiatrie nach außen öffnen und eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit fördern wollte. Bis zu seiner Pensionierung vor wenigen Monaten hat er Schulklassen die Ausstellung gezeigt. In den Museumsräumen, in denen früher psychisch Kranke untergebracht waren, stehen alte Betten mit hohen Gittern, die aussehen wie kleine Gefängnisse. Schaufensterpuppen tragen Schwesternuniformen. Eine Zwangsjacke hängt an der Wand. Es wirkt wie in „Einer flog übers Kuckucksnest“. Gleich rollt jemand Jack Nicholson vorbei, denke ich, bei dem eine Lobotomie gemacht werden soll.
Oma ist still. Wir schauen uns Patientenakten aus den dreißiger Jahren an. Von den Passfotos blicken uns normale Leute mit normaler Kleidung und ziemlich normalem Blick an. Na ja, denke ich, wie sollen sie denn sonst aussehen. Geboren in Duisburg, Emmerich, Köln oder Dinslaken. In den Unterlagen eines Mannes, eingeliefert 1929, hat der Arzt handschriftlich immer wieder das Gleiche notiert: „Krankheitszustand unverändert“. Über zehn Jahre hinweg.
Ende des 19. Jahrhunderts entstanden viele psychiatrische Heilanstalten, meist auf dem Land, um den vermeintlich schädlichen Einfluss der Zivilisation auf die Psyche zu begrenzen. Kranke, die vorher bei ihren Familien lebten oder in kirchlichen Einrichtungen verwahrt wurden, schickte man nun hierher.
Bedburg-Hau galt als Reformanstalt. Die Psychiater, die sich wenige Jahre zuvor selbst noch Irrenärzte nannten, setzten bei der Behandlung von Krankheiten wie Schizophrenie auf Schocktherapie; wirksame Medikamente sollten erst in den sechziger Jahren erfunden werden. „Fast alle bekamen warme Bäder“, sagt der ehemalige Museumsleiter Horschig. Er zeigt uns Wannen mit Deckeln, aus denen nur der Kopf rausschauen konnte. Auch Elise Westermann lag wohl in so einer. Oft wickelten die Pfleger die Patienten danach in nasse Tücher. Wie kleine Pharaonen ließ man sie trocknen, bis sich der Stoff so zusammenzog, dass die Enge schmerzte. Erzwungene Ruhe.
Im letzten Raum der Ausstellung sind Blumen und Kerzen aufgestellt, dort liegt ein Aktenordner mit laminierten Seiten auf einem Stehpult. Aufgelistet sind die Namen der Menschen, die während des Nationalsozialismus von Bedburg-Hau aus in den Tod gefahren sind. Fast die Hälfte der Patienten wurde um das Jahr 1939 herum aus Bedburg-Hau ins ganze Land verlegt. Als Vorbereitung auf den Angriffskrieg sollten Teile der Psychiatrie an der niederländischen Grenze in ein Lazarett umgewandelt werden. Oma und ich stehen vor dem Buch, ich blättere bis W.
Ehefrau Wilh. Westermann. Gestorben 1941, steht da.
Wenn Elise sich in dem Ordner findet, heißt das, sie ist ermordet worden?
Der pensionierte Museumsführer nickt. Oma hält den Ordner fest, sie schluckt. „Mit 81 Jahren erfahre ich, dass die Nazis meine Oma wirklich ermordet haben“, wird sie später sagen.
Als wir wieder im Auto sitzen, stelle ich mir vor, wie es wohl für Elise war, aus ihrer Familie gerissen zu werden, allein in der Psychiatrie zu sein und irgendwann abtransportiert zu werden – und keiner tut etwas dagegen. Warum wurde in der Familie nicht über Elise gesprochen? Oma sagt: „Das war eine schwierige Zeit damals.“ Sie fängt an, von ihrer Kindheit zu erzählen. Von der Flucht. Während des Krieges, als auf das Ruhrgebiet Bomben fielen, kamen meine sechs Jahre alte Oma, ihr eineinhalb Jahre alter Bruder und ihre Mutter Irmgard nach Ostpreußen, wo es vermeintlich sicherer sein sollte. 1945, Deutschland hatte verloren, wollten sie zurück nach Oberhausen, ins Ruhrgebiet. Eine Szene ist Oma in Erinnerung geblieben: Die drei waren in einem Flüchtlingstreck, irgendwo in Sachsen oder Thüringen, als die Mutter in den Fluss sprang, weil sie am anderen Ufer eine Verwandte sah. Da dort aber der amerikanische Sektor begann, schoss ein russischer Soldat ins Wasser. „Ich dachte, Mutti stirbt“, sagt Oma. Der Soldat traf nicht, kurze Zeit später war die Mutter zurück. Aber es blieb dieses Gefühl: Jeder kann jederzeit weg sein, sterben. Oma sagt: „Viele Menschen waren nach dem Krieg nicht mehr da.“
Da habe man nicht so viel darüber nachgedacht, wo die Großmutter abgeblieben sei. „Mit Mutti habe ich als Erwachsene vielleicht zwei- oder dreimal über Elise
gesprochen. Sie wollte das nicht, es war ihr immer sehr unangenehm.“ Oma schaut kurz aus dem Fenster. „Vielleicht hat sie sich geschämt, dass sie nichts unternommen hat“, sagt sie. Und: „Auch
nach dem Krieg war keiner stolz, jemanden in der Psychiatrie gehabt zu haben.“
Was passierte also mit Elise Westermann, als sie Bedburg-Hau verließ? Im Zentralarchiv der Psychiatrien im Rheinland gibt es keine Akte von ihr. Museumsführer Horschig wusste nur, dass sie 1939 nach Großschweidnitz in Sachsen kam. Das liegt in der Nähe von Dresden, das ist Oma zu weit. Ich rufe dort an.
Nach ein paar Versuchen habe ich die Pressesprecherin am Telefon, die sagt, man sei heute ein normales Krankenhaus, man wollte sich nicht „immer mit dieser Zeit beschäftigen“, hätte das „Kapitel vor längerem geschlossen“.
Ich bin überrascht. Auch die Tante des Malers Gerhard Richter wurde hier ermordet. Er hat ein Bild von ihr gemalt, leicht verschwommen, wie viele Bilder von ihm. Woanders erfahre ich, dass die Akten von damals, wenn es sie noch gibt, im Sächsischen Staatsarchiv lagern könnten. Ein paar Tage vergehen, bis ich aus Dresden eine gescannte Karteikarte per Mail erhalte.
Da steht: Am 7.4.1883 wurde Elise Westermann als Elisabeth Grotloh im Oberhausener Stadtteil Alstaden geboren, ihr Mann ist Johann Wilhelm Westermann, von Beruf Kaufmann. Diagnose: Schizophrenie. „Aus der Krankengeschichte“, ist mit Schreibmaschine auf die Rückseite getippt. „Misstrauisch-ablehnend; kein Konnex. Plötzlich auftretende Erregungen, schimpft und droht, die schnell wieder abklingen.“ Es ist das erste Mal, dass ich etwas über Elises Krankheitsbild lese.
Die Medizinhistorikerin Maike Rotzoll, mit der ich darüber spreche, wundert sich über das Alltagsvokabular in der Beschreibung. Um eine echte Diagnose handele es sich nicht. Schizophrenie wurde damals sehr vielen Patienten attestiert, erst von den sechziger, siebziger Jahren an habe man präziser klassifiziert.
Auf der Karteikarte steht auch, dass Elise von Bedburg-Hau nicht direkt nach Großschweidnitz, sondern zunächst ins niedersächsische Göttingen kam: in eine ganz normale Psychiatrie.
Im September 1939 begann das, was Historiker heute als „T4-Aktion“ bezeichnen. Adolf Hitler hatte einen Erlass unterzeichnet, in dem es heißt, „die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte“ sollten so erweitert werden, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der „Gnadentod“ gewährt werden könne. Das war in der NS-Führung nicht unumstritten, anders als bei Juden oder Roma, die in der Rassenideologie als „parasitäres Ungeziefer“ galten. Auch der Leiter der Anstalt in Göttingen hatte bei einem internen Treffen die geplante Ermordung psychisch Kranker kritisiert.
In den Heil- und Pflegeanstalten im ganzen Land, auch in Göttingen, mussten die Ärzte von 1940 an einen einseitigen Bogen über jeden ihrer Patienten ausfüllen. Darin gaben sie das Alter und die Diagnose an; sie kreuzten an, ob ein Patient auffällig war. Ohne zumindest offiziell das Ziel der Befragung zu kennen, sendeten die Ärzte in den Psychiatrien die Formulare nach Berlin. In einer spätklassizistischen Villa an der Tiergartenstraße 4 – daher „T4“ – hatte die „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“ ihren Sitz. Jeder Meldebogen wurde an der Tiergartenstraße vervielfältigt und an jeweils drei der 80 Gutachter geschickt. Zeichneten mindestens zwei von ihnen rote Kreuze auf die Seite, wurde einem Patienten das „Lebensrecht“ abgesprochen.
Bei der 57 Jahre alten Elise entschieden die Ärzte, ohne sie je gesehen zu haben: Sie soll sterben.
Elise Westermann wurde daraufhin mit einem Sammeltransport von Göttingen nach Großschweidnitz verlegt. In ihre Patientenkarteikarte gestempelt war ein rotes „D“: Durchgangspatient. Elise wurde deshalb vermutlich weder untersucht noch mit Kleidung ausgestattet. Großschweidnitz war nur ein Zwischenstopp, weiter ging es in die „Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein“.
Es gibt keine Akten von der 60-köpfigen Gruppe aus Göttingen. Aber das Vorgehen war standardisiert, in vielen anderen Fällen ist es gut dokumentiert. 1947 wurde Ärzten und Pflegekräften, die an der Ermordung beteiligt waren, in Dresden der Prozess gemacht. Was heute bekannt ist, speist sich zum Großteil aus den Aussagen der Krankenschwestern, Pfleger und Schreibkräfte von damals. In Pirna-Sonnenstein gibt es heute eine Gedenkstätte. Während mir der Historiker Hagen Markwardt die Räume zeigt, kann ich mir ausmalen, was meiner Ururgroßmutter widerfahren ist.
Keine zwei Wochen nach der Ankunft in Großschweidnitz halten vor der Psychiatrie zwei Busse. Die gesamte Gruppe aus Göttingen, mit der Elise gekommen ist, soll einsteigen. Die Fenster sind angestrichen, kein Blick raus, kein Blick hinein. Zwei bis drei Stunden dauert die Fahrt. Auf dem Sonnenstein, einem Berg oberhalb des sächsischen Pirna, wo die Anstalt untergebracht war, empfängt man die Patienten. Die Odyssee solle nun vorbei sein, signalisiert man ihnen. Die Neuankömmlinge dürfen sich ausruhen, zur Toilette gehen. In kleinen Gruppen bringt man sie zu den Duschen. Sie werden durch mehrere Räume im Erdgeschoss von Schloss Sonnenstein geführt, bis sie bei einer Treppe ankommen.
Unten, im ersten Kellerraum, sollen sie sich ausziehen, ihre Identität wird überprüft, alle bekommen Nummern. Elise und neun andere betreten einen kleinen Raum mit pechschwarzen Wänden und einem gepflasterten Boden. An der Decke sind Duschköpfe montiert, aus denen aber kein Wasser kommen kann, es sind Attrappen. Die Luftschutztür schließt sich. Ein Arzt blickt durch die Glasscheibe hinein, dreht die Gasflasche mit Kohlenmonoxid auf, das aus kleinen Löchern in den Rohren strömt. Manche Patienten klopfen an die Tür, streben zum vergitterten, geschlossenen Fenster, wie später ein Pfleger in den Dresdener Ärzteprozessen aussagt. Sobald alle auf dem Boden liegen, nach fünf bis zehn Minuten, dreht der Arzt das Gas ab. Eine halbe Stunde lang zieht das Gas durch das Fenster ab, dann kommen die „Brenner“, SS-Leute. Sie tragen die Leichen durch die Luftschutztür auf der anderen Seite des Raumes, schlagen die Goldzähne aus und werfen sie in ein Gurkenglas; was nicht wertvoll ist, landet im Müll.
Den Ofen heizen die Männer mit Koks vor. Bis ein Krematorium heiß genug ist, um menschliche Körper zu verbrennen, braucht es seine Zeit, erklärt mir Historiker Markwardt. Zwei, maximal drei Körper kommen in den Ofen. Wenn, wie im Fall von Elise, 60 Menschen an einem Tag getötet wurden, rauchte die ganze Nacht der Schornstein über Pirna. Industrie gab es in der Kleinstadt nicht, auf dem Berg oben lag nur die Psychiatrie. Wie spätere Befragungen zeigten, wussten die Bürger der Stadt, was das für Asche war, die sich jede Nacht auf ihre Dächer und Fensterbretter legte. Sie wussten, wovon es so süßlich-eklig roch.
Am 10. Mai 1941 ist Elise Westermann tot.
Der wahre Ort ihres Todes wird in der Sterbeurkunde, die an ihren Mann in Oberhausen gesendet worden sein muss, nicht genannt. Die Nazis haben systematisch verschleiert, wie viele Menschen in Pirna und den anderen fünf Tötungsanstalten für Menschen mit psychischen Erkrankungen und körperlichen Behinderungen starben. Eine erfundene Todesursache hatte ein Arzt bereits vor der Ermordung festgelegt. Mit Hilfe von Stecknadeln auf einer Deutschland-Karte wies man den Toten Sterbeorte zu, möglichst gleichmäßig über das Land verteilt. Hunderte Briefe wurden aufgesetzt, das Todesdatum in der Regel zehn Tage nach hinten datiert; in dieser Zeit bekam die „T4“-Organisation in Berlin noch die Verpflegungskosten für die Patienten erstattet.
Als Markwardt und ich wieder auf dem Vorplatz der Gedenkstätte stehen, kommt ein kleiner, etwas älterer Mann mit seltsam angewinkelten Armen auf uns zugelaufen. Markwardt begrüßt ihn, der Mann sagt hallo und will uns an den Haaren ziehen. „Nee, lass das mal bitte“, sagt Markwardt. Der Mann zieht von dannen. Er hat gerade Mittagspause. Heute ist in Pirna-Sonnenstein eine Behindertenwerkstatt der Awo untergebracht. Anfangs, sagt Markwardt, fand man es schon seltsam, dass gerade hier, wo 13000 behinderte und psychisch kranke Menschen getötet wurden, jetzt Behinderte und psychisch Kranke arbeiten und leben. „Andererseits ist es aber auch ein Zeichen: Gerade hier behandelt man körperlich und geistig Eingeschränkte menschenwürdig.“
Mir fallen die Worte eines Bischofs ein, die ich auf der Zugfahrt nach Pirna gelesen habe. Clemens August Graf von Galen war während des Dritten Reichs Bischof von Münster und erstattete Anzeige gegen die Krankenmorde der Nazis. Anfang August 1941 sagte er in einer Predigt: „Nie, unter keinen Umständen darf der Mensch außerhalb des Krieges und der gerechten Notwehr einen Unschuldigen töten.“ Und: „Wenn man die unproduktiven Mitmenschen gewaltsam beseitigen darf, dann wehe unseren braven Soldaten, die als Schwerkriegsverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurückkehren.“ Von Galen war Nationalist, den Krieg gegen die Sowjetunion hielt er für richtig. Aber mit seiner Predigt, die sich über das ganze Land verbreitete, brachte er die Morde aus den Tötungsanstalten in die Kirchen. Er zeigte, dass jeder unbrauchbar werden konnte, dass jeder in den Gaskammern enden könnte. Hitler fürchtete einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung und beschloss am 24. August 1941, die „T4“-Aktion vorerst einzustellen. Für meine Ururgroßmutter Elise kam das vier Monate zu spät.
Als ich den Berg hinunterlaufe, rufe ich Oma an. Ich erzähle ihr vom Keller, von der Gaskammer, die wie das Krematorium 1943 demontiert wurde, von den erfundenen Briefen, dem Rauch über der Stadt. Davon, dass es zwar heute nicht mehr viel zu sehen gibt, aber die Schilderung der Mordmaschine mir den Magen zuschnürte. Oma schweigt lange. „Die haben sie vergast“, sagt sie schließlich.
Als ich nach Hause komme, liegt ein gelbes DHL-Paket im Flur. Absender ist ein Verwandter, dessen verstorbener Vater Fotos, Urkunden und Unterlagen der Familie sammelte. Oma hatte ihm von unserer Recherche erzählt. Die meisten Bilder in den Alben sind aus der Zeit nach dem Krieg. Familienfeiern, Weihnachten, Skifahren. Nur wenige Bilder sind älter. Eines ist im Fotoatelier August Breuer in Oberhausen aufgenommen worden. Eine junge Frau sitzt mit zwei kleinen Mädchen auf einer Bank, es sind Elise und ihre Töchter Irmgard und Elisabeth. Alle drei tragen weiß leuchtende Kleider. Die Kinder dürften zwei Jahre und sechs Jahre alt gewesen sein, sie selbst Mitte 20. Elise hat weiche, volle Wangen. Ich bin mir nicht ganz sicher, meine aber, dass ihr Blick verletzlich wirkt. Es ist das erste Mal, dass ich ihr Gesicht sehe. Bislang war Elise Westermann vor allem ein Name. Eine fast vergessene Verwandte. Eine Frau, die von den Nazis ermordet wurde. Jetzt sehe ich eine junge Mutter mit Hoffnungen und Träumen.
Ihr Mann Wilhelm war zehn Jahre älter. Auf den frühen Bildern hat er einen Oberlippenbart, ein rundes Gesicht, einen Wohlstandsbauch; in einem 1943 ausgestellten Ausweis ist er schmal, beinahe ausgezehrt. Bart, Haare und Bauch sind verschwunden. Der Beamte notierte im Feld für „unveränderliche Kennzeichen“: fehlen. Wilhelm war Kaufmann mit kleinem Handelsunternehmen. In einer großen Wohnung in der Innenstadt, ein paar Straßen vom Oberhausener Bahnhof entfernt, lebten Wilhelm und Elise mit den zwei Töchtern. Sie waren nicht reich, aber es ging ihnen ganz gut.
Was führt dazu, dass Elise schizophrene Schübe bekommt, dass sie sogar eingewiesen wird? Im Zuge meiner Recherchen habe ich gelernt: Es gibt nicht immer einen Auslöser. „Manche Menschen wachen eines Morgens auf, und alles ist anders“, sagt Marcella Rietschel, Psychiaterin und Genforscherin an der Universität Mannheim, mit der ich telefoniere. Oma erzählt, dass Elise ihren Haushalt irgendwann nicht mehr führen konnte. Eine Haushälterin wurde eingestellt. Kurzzeitig wurde meine Ururgroßmutter auch in einem Frauensanatorium in Kaiserswerth behandelt, einem heutigen Stadtteil von Düsseldorf. Ihr Zustand muss sich so verschlechtert haben, dass Elise nach Bedburg-Hau kam. Nur auf einem Dokument im Karton ist sie offiziell „verstorben“: als ihr Mann 1943 die Haushälterin zur Frau nimmt.
Die Töchter, die beide Anfang der vierziger Jahre heiraten wollen, müssen wie damals üblich ein Ehetauglichkeitszeugnis ablegen. Es war nicht einfach, die Bescheinigung zu bekommen, hat man Oma erzählt. Eigentlich sollten Kinder psychisch Kranker nicht heiraten und Kinder bekommen. Freunde kannten eine Ärztin beim Gesundheitsamt, die half. Die Abteilung Erb- und Rassenpflege des Gesundheitsamtes der Stadt Düsseldorf bescheinigte Elises Tochter Irmgard somit „keine Ehehindernisse im Sinne des Gesetzes zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (...) und des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der Ehre“. Irmgard musste ihre biologische Mutter Elise zum Geheimnis machen, um eine Familie gründen zu dürfen.
Auch als es das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses längst nicht mehr gibt, bleibt in der Familie die Sorge, dass die Krankheit, die Elise in die Psychiatrie brachte, eine Generation überspringen könnte. Dass auch Oma oder ihr kleiner Bruder aus dem bürgerlichen Leben gerissen würden und in die Psychiatrie müssten. Beide sind nie wegen solcher Krankheiten behandelt worden. Aber Monika, die Cousine, die diese Recherche ins Rollen brachte, befindet sich fünf Monate später in einer geschlossenen Psychiatrie. „Die Ärzte glauben, dass sie sich was antun könnte“, erzählt Oma.
Jenseits der Schatten der Naziideologie weiß man heute, dass der Anteil der Gene bei der Entstehung schizophrener Störungen tatsächlich hoch ist. Die Psychiaterin Marcella Rietschel aus Mannheim beziffert ihn im Gespräch mit mir auf 80Prozent. Aber eine genetische Disposition bedeute nicht automatisch, dass man erkranken müsse. „Oft stellt sich heraus, dass es in den Familien eine Form der Mythenbildung gab, dass Krankheiten Generationen überspringen könnten“, sagt Rietschel. Das Risiko sei niedriger als gedacht.
Vor dem inneren Auge gehe ich meine Verwandten bei Omas letzter Geburtstagsfeier durch. In meiner Familie steckt nicht der Wahnsinn, denke ich. In meiner Familie steckte ein Geheimnis. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, werde ich ihnen von Elise erzählen.
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