Das Gegenteil von spirituell ist nicht materiell. Das Gegenteil von spirituell ist egozentrisch. Michael Pollan
»Konventionelle Weisheit legt nahe, dass das Gegenmittel gegen religiösen Fundamentalismus mehr Säkularismus ist. Aber das ist ein sehr großer Fehler. Die beste Antwort auf schlechte Religion ist eine bessere Religion, kein Säkularismus.« Jim Wallis
Jim Wallis (* 4. Juni 1948 in Detroit, Michigan) ist ein US-amerikanischer evangelikaler Prediger, Gründer der christlichen Kommune Sojourners, Politaktivist, Präsidentenberater, Buchautor und Dozent für Politik und Religion in Harvard. Er gehört zu den führenden Personen der Linksevangelikalen (amerikanisch: Red-Letter Christians [& click here]) weltweit.
FÜR EINEN GUTEN TAG
Biblische Überlegungen zur Pandemie -
Der Heiler
Epidemiologen können die Bibel wie eine Fachzeitschrift lesen, es gab Lepra, Syphilis, Malaria. Als Jesus kam, holte er die Kranken
aus der Isolation und nahm ihnen die Scham.
Von Justus Bender | F.A.S. - Politik S. 2 - Sonntag, 20.12.2020
Das Alte Testament ist eine interessante Lektüre für Venerologen. Dort wimmelt es nur so von Geschlechtskrankheiten. Während Moses auf dem Berg Sinai
unterwegs ist, um die Zehn Gebote von Gott zu empfangen, fangen die Israeliten im Tal an, ein goldenes Kalb anzubeten und sich auf unterschiedliche Weisen zu vergnügen. Als Moses
zurückkehrt und das Spektakel sieht, zerschlägt er das Kalb und die Steintafeln mit den Geboten gleich mit. Auch Gott ist sehr wütend. Er straft das Volk mit einer Seuche, deren Namen in der
Bibel nicht genannt wird, deren Ursprung aber auch die eigene Zügellosigkeit gewesen sein kann. Venerologen spekulieren über Syphilis oder Tripper. Es gibt Artikel in medizinischen
Fachzeitschriften darüber. Die Bakterien entstellten die Menschen, sie hatten Geschwüre am ganzen Körper. Wenn in der Bibel von Leprakranken die Rede ist, dann ist nicht unbedingt die vom
Mycobacterium leprae verursachte Krankheit gemeint, sondern viele Formen von entstellenden Seuchen. Und wer krank wurde, hatte kein Mitleid verdient, denn er war ein Sünder, von Gott
gestraft.
Auch für Epidemiologen sind die Bücher Mose aufschlussreich, dort geht es um Hygieneregeln. Hohepriester durften keine Leichen anfassen. Leute mit
Krankheiten durften nicht in das Gemeinschaftszelt kommen, sollten dem Essen fernbleiben, und jeder und alles, was sie berührt hatten, wurde desinfiziert und unter Quarantäne gestellt.
Die Kontaktnachverfolgung war rigoros. „Jeder, den der Kranke berührt, ohne zuvor seine Hände mit Wasser abzuspülen, muss seine Kleider waschen, sich in Wasser baden und ist unrein bis zum
Abend“, heißt es in Levitikus 15,11.
War irgendein Querdenker der Meinung, sich nicht an diese Regeln zum Infektionsschutz halten zu müssen, dem wurden die Konsequenzen deutlich gemacht. „Der Herr
wird dich schlagen mit Drüsen Ägyptens, mit Feigwarzen, mit Grind und Krätze, dass du nicht kannst heil werden“, heißt es im Deuteronomium 28,27. Damals gab es noch keine Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung mit freundlichen Broschüren. In der Epidemiebekämpfung ist der Ton der Bibel so barsch, dass ein Sprichwort daraus entstanden ist: Ich lese dir die
Leviten, sagen wir heute zu Aufmüpfigen.
Wer jammert, weil das Gesundheitsamt anruft und eine Quarantäne im warmen Wohnzimmer verordnet, dem sollte Levitikus 13,45–46 gelesen werden. Damals waren die
Ansagen ein bisschen härter. „Der Aussätzige, der von diesem Übel betroffen ist, soll eingerissene Kleider tragen und das Kopfhaar ungepflegt lassen; er soll den Schnurrbart verhüllen
und ausrufen: Unrein! Unrein! Solange das Übel besteht, bleibt er unrein; er ist unrein. Er soll abgesondert wohnen, außerhalb des Lagers soll er sich aufhalten.“ Das Verhüllen des
Schnurrbarts klingt nach Alltagsmaske und das Ausrufen von „Unrein!“ nach einer Corona-App ohne Datenschutz. Infizierte waren Sünder, Unreine, Ausgestoßene. Die Krankheit bedeutete
nicht nur Isolation, sondern Arbeitslosigkeit, Armut und Obdachlosigkeit. Infektionen waren nicht nur körperliche Leiden, sondern eine seelische Katastrophe.
Dann kam Jesus von Nazareth. Der Bibelforscher John Dominic Crossan erzählt seine Geschichte anders als in manchem Kommunionsunterricht. Für Crossan war Jesus
ein Revolutionär und ein Heiler, der die sozialen Folgen von Epidemien milderte. Crossan hat sich sein Leben lang mit Jesus beschäftigt. Er war Mönch im Servitenorden, Wissenschaftler am
Päpstlichen Bibelinstitut und Professor in Chicago. Für ihn führte Jesus eine Bewegung an, die zum gewaltlosen Widerstand gegen das Römische Imperium aufrief. Nicht Kaiser Augustus
sollte der Sohn Gottes sein, wie es damals auf jeder Münze stand, sondern Jesus, der Sohn eines Tischlers aus Nazareth. Das war Hochverrat, den Christen aus Sicht der damaligen Römer bis heute
begehen, wenn sie beten: „Dein Reich komme.“ Statt des Römischen Reiches versprach Jesus ein Königreich Gottes, in dem Gerechtigkeit herrscht.
In Galiläa, wo Jesus lebte, waren die Zeiten unruhig. Der von Rom eingesetzte Herrscher, Herodes Antipas, verlegte die Hauptstadt an den See Genezareth. Den
wollten die Römer kommerzialisieren. Sie wollten den Fisch einsalzen und im ganzen Reich verkaufen. Die Fischer sollten in Fischfabriken arbeiten und nicht mehr auf eigene Rechnung. Das
ganze wirtschaftliche Gefüge geriet aus dem Gleichgewicht und damit die sozialen Strukturen. Deshalb waren so viele von Jesu Jüngern ehemalige Fischer, der Fisch war ihr Symbol. Sie hatten
ihre Jobs verloren. Sie waren arm. Am See gab es Malaria. Überall liefen Kranke herum, um die sich niemand kümmerte, weil sie Ausgestoßene waren und weil die alte Solidargemeinschaft durch
das Effizienzdenken der Römer abgelöst wurde. „Das multipliziert nicht die Präsenz der Kranken, aber ihre Einsamkeit, ihre Isolation. Es gibt eine Gesundheitskrise zur Zeit von Jesus,
die sozioökonomische Gründe hat“, sagt Crossan. Auch bei Corona sieht er solche Folgen. Zum Beispiel steigt in Amerika die Selbstmordrate, es gibt seelische Not. Im Fernsehen hat Crossan
eine Krankenschwester gesehen, die erzählte, wie die Patienten bei ihr sterben: allein, ohne Verwandte, nur im Kontakt mit vermummten Pflegern.
Die Hungrigen kamen zu Jesu Jüngern und baten um Essen. Die Jünger hatten aber kein Essen und schlugen Jesus vor, die Leute wegzuschicken, damit sie sich selbst was
kaufen. Jesus lehnte ab. „Sie brauchen nicht wegzugehen. Gebt ihnen zu essen.“ Das war ein wichtiger Satz. Jesus machte seine Jünger verantwortlich für das Wohlergehen der Menschen. Seine
Königreich-Bewegung war ein sozialpolitisches Projekt, auch wenn es um Kranke ging. „Der deutsche Kirchenhistoriker Adolf von Harnack hat einmal gesagt: ,Das Christentum ist eine
medizinische Religion.‘ Weil das Heilen so wichtig ist“, sagt Crossan. In Abbildungen aus dem zweiten Jahrhundert ist Jesus vor allem ein Heiler. „Peinlicherweise hat er in
frühchristlichen Abbildungen oft einen Zauberstab in der Hand, mit dem er heilt.“
Einmal traf Jesus einen Kranken, der als Aussätziger leben musste, also in der Verbannung. Er kniete vor Jesus und sagte: „Willst du, so kannst du mich wohl
reinigen. Und es jammerte Jesum, und er reckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach: Ich will’s tun; sei gereinigt! Und als er so sprach, ging der Aussatz alsbald von ihm, und er ward rein“,
heißt es in Markus 1,40. Jesus berührte einen Aussätzigen! Wenn das jemand mitbekommen hätte, wären ihm die Leviten gelesen worden. Deshalb sagte Jesus schnell zu dem Aussätzigen, er solle
niemandem davon erzählen. Der Aussätzige aber hielt sich nicht daran und erzählte es rum. Die Folge war: Jesus konnte nicht mehr in die Stadt, er musste seine Heilungen außerhalb machen. Was
hatte der Aussätzige erzählt? Hatte Jesus ihn durch eine Berührung kuriert?
Crossan glaubt nicht, dass der Mann körperlich gesund wurde. Er glaubt auch nicht, dass Jesus das gekonnt hätte. „Angenommen, ein Mann mit ausgestochenen Augen kam zu Jesus. Hat er ihn berührt, und seine Augen waren wieder da? Das glaube ich nicht eine Sekunde. Und ich glaube nicht, dass die Leute im ersten Jahrhundert das gedacht haben.“ Das steht auch nicht in der Bibel über den Aussätzigen. Da steht: Er wurde rein. Unreinheit ist eine soziale Kategorie.
Crossan erinnert sich, wie seine Studenten in Chicago Anfang der neunziger Jahre nicht verstanden, was er meinte. Dann schauten sie zusammen den Film
„Philadelphia“. Tom Hanks spielt einen homosexuellen Anwalt, der an Aids erkrankt. Er wird von der Gesellschaft ausgeschlossen, von seiner Kanzlei gefeuert, und keiner will ihm helfen,
weil sie ihn als Schwulen und Aids-Kranken verachten. Während er langsam stirbt, kämpft er für Gerechtigkeit und Anerkennung. Und er gewinnt; vor Gericht, im Freundeskreis, in der
Gesellschaft. Er stirbt als geliebter, respektierter Mensch. Wurde er kuriert? Nein. Geheilt? Auf gewisse Weise. Crossans Studenten verstanden. Jesus „weigerte sich, die rituelle
Unreinheit und soziale Ausgrenzung der Krankheit zu akzeptieren“, sagt Crossan.
In den sechziger Jahren forschte Crossan in Rom. Einmal reiste er mit einer Gruppe nach Lourdes zur Wallfahrt. Er sah biblische Menschen, eine Prozession von Tauben, Lahmen und Blinden. „Diesen Menschen wurde gesagt, wenn sie tief daran glaubten, würden sie geheilt werden. Sie kamen aber zurück, wie sie hingegangen waren, mit denselben Gebrechen. Warum waren sie nicht am Boden zerstört? Sie erlebten eine Gemeinschaft der Kranken. Sie waren nicht mehr abnorm. Die Abnormen waren die Gesunden.“
Was Jesus heute tun würde? Er würde die sozialen Folgen von Covid bekämpfen, glaubt Crossan. „Er würde von denen sammeln, die Geld haben, und Masken kaufen für die Armen. Die Gemeinschaft ist wichtiger als der Individualismus. Ein schroffer Individualismus ist das Schlimmste, das einem in einer Pandemie passieren kann.“
Popsongs fürs Leben
Junge und ältere Menschen aus dem kirchlichen Bereich beschreiben in dem Band „Doppelalbum“, warum ihnen bestimmte Bands und Künstler viel bedeuten.
Von Thomas Klingbiel . NEUE WESTFÄLISCHE v. 9./10.Januar 2021, S. 8: Kultur/Medien
Bielefeld. „Let It Be“ von den Beatles hört Ralf Tyra zum ersten Mal 1971, bei einer Garagenparty seiner Cousine. Da ist er 14 und die Beatles haben sich schon aufgelöst. Damals mildert der Song für ihn den Stress mit den Eltern und den Druck in der Schule. Das Lied wird ihm das ganze Leben hindurch immer wieder Halt geben, auch als er mit 53 Jahren lebensbedrohlich erkrankt und düstere Monate durchmacht. In jener Zeit ist ihm Paul McCartneys mit Bibelzitaten gespicktes „Let It Be“ ein Licht, „das scheint, auch wenn man es nicht sieht“.
So formuliert es der Pastor und Leiter des Hauses Kirchlicher Dienste der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers in seinem Beitrag für den Band „Doppelalbum. Popmusik und Biographie“. 18 ältere, aber auch jüngere Menschen aus dem kirchlichen Bereich – Geistliche, Theologiestudentinnen, Kirchenvorständler – schreiben jeweils über zwei Alben oder Songs, die sie geprägt haben und die ihnen in religiös-spiritueller Hinsicht wichtig sind.
Annette Behnken (51) aus Bielefeld fühlt sich zwischen 18 und 20 vor allem von der Band „Ton, Steine, Scherben“ und deren Album „Keine Macht für niemand“ verstanden. „Auf den Punkt rausgerotzter Zorn“, schreibt die Pastorin, die heute Studienleiterin an der Ev. Akademie Loccum ist. Ihr Zorn richtet sich damals auf „14 Jahre Schulgefängnis und Lehrer, deren Autorität ich nicht ernstnehmen konnte.“ Dirk Brall (45), Leiter des Literaturhauses St. Jakobi Hildesheim, entkommt 1991 mit U2 und deren „Achtung, Baby!“ der dörflichen Enge seiner Jugend. Für Katja Lembke (55), Direktorin des Landesmuseums in Hannover und kulturelle Beraterin der Landeskirche, ist mit 14 Sandy aus dem Musical „Grease“ Vorbild genug für ihren „Wunsch nach Revolte und Befreiung“.
Die Idee zu dem Sammelband hatte Matthias Surall, bis 2016 ev. Studentenpfarrer in Paderborn und heute in Diensten der Landeskirche Hannovers. „Pop und Rock sind seit Jahrzehnten der Soundtrack des Lebens vieler Menschen“, sagt der 58-Jährige, der in „Doppelalbum“ seine Begeisterung für Bob Dylans „christliches“ Album „Slow Train Coming“ (1979) und Nick Caves „Dig!!! Lazarus Dig!!!“ erklärt. Als sogenannter Kulturpastor erkennt Surall in Popmusik nicht zuletzt eine „breite Anschlussfähigkeit“ für kirchliche Arbeit. Schließlich nutzt sie häufig religiöse Symbolik und berührt existenzielle Fragen von Liebe bis Tod. „Mit spirituellen Themen in Popsongs“, ist Surall überzeugt, „werden mehr Menschen erreicht als durch kirchliche Verlautbarungen, Andachten und Gottesdienste“.
Der biografische Soundtrack wird in der Jugend geprägt
Popmusik ist besonders wirkmächtig, weil sie als Gesamtkunstwerk auf verschiedenen Ebenen funktioniert – intellektuell, emotional, visuell, motorisch. „Nachhaltig wird der biografische Soundtrack in der Teenager-Zeit geprägt, wenn die großen Fragen erstmals anstehen, auch die nach der Selbstfindung“, erläutert Surall.
Das popmusikalische „erste Mal“ ist oft mit konkreten Erinnerungen an Ort und Zeit verbunden. Das spiegeln auch die in „Doppelalbum“ wiedergegebenen Erfahrungen. Der Plattenladen, in dem 1981 das komplette Taschengeld des Monats für das „Greatest Hits“-Album von Queen verprasst wurde, steht auch nach vier Jahrzehnten noch genau vor Augen. Der scheppernde, dennoch alles verheißende Sound aus der „Schneider-Kompaktanlage“, ist ebenfalls noch im Ohr. Eindringlicher sind jedoch die Passagen, in denen die Musik nicht nur Erinnerungen an früher auslöst, sondern in denen erzählt wird, warum man immer wieder zu ihr zurückkehrt, womöglich mitsingt und sie anderen dringend nahelegt.
Johannes Feisthauer (33), Pastor in Georgsmarienhütte, findet in Radioheads Album „In Rainbows“ (2007) jedes Mal aufs Neue „Wärme und den zutiefst menschlichen Ausdruck dessen, was den Menschen antreibt“. Pastorin Imke Schwarz (45) wird von Ina Müllers plattdeutsch gesungenem „Mama“ verlässlich in Gedanken in ihren norddeutschen Heimatort transportiert.
Stiftungsberater Martin Käthler hält schon fast rührend seit Jugendtagen an seiner einsamen Liebe zur Progrock-Band Camel und deren märchenhaften Songgeschichten etwa über Schneegänse und ein Mädchen namens Fritha fest. AC/DCs „Highway to Hell“ oder Hip-Hop finden sich beinahe erwartungsgemäß nicht unter den Musikvorlieben dieses Autorenkreises, ansonsten ist fast alles vertreten, vom Theologen-Liebling Leonard Cohen bis zum exquisiten melodischen Pop von Prefab Sprout.
Das Lebenslied von Jan von Lingen, Pastor und Liedermacher, ist Carole Kings „You’ve Got a Friend“. Ein junger Amerikaner brachte es 1979 dem damals 17-Jährigen bei, der mit Rucksack und Gitarre durch Frankreich trampte. Zu Hause in Deutschland zog das Lied mit der tröstlichen Botschaft, das in James Taylors Version zum Welthit wurde, auch von Lingens Familie und Freundeskreis in den Bann. „Bis heute wird es bei Treffen angestimmt“, schreibt er. „Inzwischen können es auch die Kinder auswendig.“
Für mich ein großartiges und unkonventionelles Projekt & Experiment: Lebenshilfe mit Bibel & Tarot - mit einer niederländischen Pastorin ...
In Herrlichkeit. Amen.
Von Hauke Goos | SPIEGEL +
"Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen."
Die deutsche Sprache zeigt häufig eine Vorliebe fürs Umständliche, Apothekerhafte.
Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgaben-Übertragungsgesetz. Das ist nicht schön. Doch auch das Deutsche kennt starke Wörter, wenn es um Wesentliches geht: Krieg und Tod, Neid und Gier, Hass und Furcht, Pein, Macht und Qual. Bei Gefühlen ist das Deutsche meist ganz bei sich, elementar und knapp.
Beim „Vaterunser“ geht es um Wesentliches. Und ums Gefühl. Jesus sagt seinen Jüngern in der Bergpredigt, wie sie beten sollen; wie man spricht, wenn man zu Gott spricht. Er will, dass sich die Christen von Pharisäern oder Heiden unterscheiden. Jede Religion braucht ein Alleinstellungsmerkmal, wenn sie erfolgreich sein will; das ist anspruchsvoll. Man muss es deshalb so einfach wie möglich erklären.
Jesus stieg für seine Predigt auf einen Berg. Das weckt zusätzlich Erwartungen. Der letzte, der vor Jesus auf einen Berg gestiegen war, war Mose. Er brachte immerhin zehn Gebote mit. Und, tatsächlich: Jesus lieferte. Seine Anleitung, Matthäus 6, 9-13, ist einer der bekanntesten Texte der Bibel – und das am weitesten verbreitete Gebet des Christentums. Das „Vaterunser“ enthält vor allem Bitten: bei Lukas fünf, bei Matthäus sieben. Nur die Matthäus-Version endet mit der Doxologie, dem „rühmenden Wort“. Es nimmt die Anfangsbitte wieder auf („Dein Reich komme“) und gibt die Zusage Gottes auffordernd an diesen zurück: „Denn dein ist das Reich...“
Dies ist das Finale. Es beginnt mit starken, einsilbigen Wörtern, als eine Art Anlauf: Denn dein ist das Reich und die Kraft. Das hat Wucht. Es könnte so einsilbig weitergehen, als ein treibendes ‚Voran‘. Es soll aber hinauf. Da hilft es, dass nun mit „Herrlichkeit“ ein dreisilbiges Wort folgt: Der Anlauf mündet in einen Dreisprung in Richtung Licht, Himmel, Abstraktion.
„Herrlichkeit“ und das nachfolgende „Ewigkeit“ sind auf den ersten Blick deutlich weniger sinnlich als beispielsweise das Englische „the glory, forever“, verschwatzter auch als das Lateinische (gloria in saecula). Sie sind aber auch gewichtiger; dadurch geben sie der Anrufung Gottes ein Fundament.
Ein mittelmäßiger Redner hätte an dieser Stelle drei Begriffe für ausreichend gehalten: Reich, Kraft, Herrlichkeit. Das funktioniert fast immer, bei „Glaube, Liebe, Hoffnung“ ebenso wie bei „Spiel, Satz, Sieg“. Überwältigend ist das „Vaterunser“, weil es über das Erwartbare hinausgeht, indem es ein Viertes hinzu nimmt: Ewigkeit. Jesus baut eine Treppe aus Wörtern, hin zum Großen, hin zum Größten, a stairway to heaven. So mitreißend kann Gewissheit sein: Nichts weniger als Herrlichkeit, nicht weniger als die Ewigkeit. Ein jubelndes Crescendo, vom Berg herunter in die Welt.
Und dann, als Schlussstein, das Amen.
REMONSTRANTEN - GLAUBEN IST FREISEIN
der unbeobachtete beobachter
Lassen Sie Gott alles durchgehen,
Pater Anselm?
Aus einem Interview von Arno Widmann, Berliner Zeitung mit Pater Anselm Grün
Ich glaube an
Gott den Allmächtigen,
der sein Volk durch Exil und Exodus hindurch geleitet hat.
Den Gott Josefs in Ägypten, Daniels in Babylon.
Den Gott der Ausländer*innen und Immigrant*innen.
Ich glaube an
Jesus Christus, einen vertriebenen Galiläer,
geboren fern von seinem Volk und seiner Heimat.
Der mit seinen Eltern aus seinem Land floh,
weil sein Leben in Gefahr war.
Als er in seine Heimat zurückkehrte,
gelitten unter Pontius Pilatus,
dem Diener einer fremden Staatsmacht.
Jesus wurde verfolgt, geschlagen, gefoltert
und zu Unrecht zum Tode verurteilt.
Am dritten Tage auferstanden von den Toten,
nicht als verachteter Ausländer,
sondern um uns die Staatsbürgerschaft in Gottes Reich anzubieten.
Ich glaube an
den Heiligen Geist.
den ewigen Einwanderer aus Gottes Reich unter uns,
der alle Sprachen spricht,
in allen Ländern lebt und alle Völker vereint.
Ich glaube,
dass die Kirche das sichere Zuhause aller Fremden und aller Gläubigen ist.
Ich glaube, dass die Gemeinschaft der Heiligen dort beginnt,
wo sich alle Menschenkinder in ihrer Vielfalt annehmen.
Ich glaube an Vergebung, die vor Gott alle gleichberechtigt
und an Versöhnung, die unsere Wunden heilt.
Ich glaube, dass Gott uns in der Auferstehung zu einem Volk machen wird,
unterschiedlich und ähnlich zugleich.
Ich glaube an
das ewige Leben, in dem niemand ein Fremdling sein muss,
sondern alle eine Staatsangehörigkeit in Gottes Reich bekommen.
Dort herrscht Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Amen.
(Im Englischen Original von Jose Luis Casal, deutsche Übertragung von Sandra Bils)
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