Das war meine Rettung
Die Holocaust-Überlebende führte ein einsames Leben, bis sie über ihre Erlebnisse reden konnte
ZEIT | ZEITMAGAZIN Nr. 3 v. 09.01.2020 - S. 54 - Feuilleton
Frau Schloss, Sie haben sich als Kind in Amsterdam versteckt, wurden verraten und deportiert. Sie und Ihre Mutter
haben Auschwitz überlebt. Doch nicht Ihr Schicksal, sondern das Ihrer Stiefschwester Anne Frank hat die Welt bewegt. Wie haben Sie das empfunden?
Ich war eifersüchtig. Das ist genauso, als würde man hassen. Auf den Titel meines ersten Buchs hat
der Herausgeber »Stiefschwester von Anne Frank« geschrieben. Das habe ich noch verstanden, weil es sonst nicht so gut verkäuflich gewesen wäre. Viele Jahre später bin ich aber
weiter als »die Stiefschwester« vorgestellt worden. Das hat mich dann doch geärgert. Jeder kennt Annes Tagebuch, aber niemand hat je von Eva Schloss gehört. Es hat lange gedauert,
bis ich das akzeptieren konnte. Ich hatte ja dasselbe mitgemacht und bin sogar am Leben!
Annes Vater Otto Frank hat als Einziger seiner Familie den Holocaust überlebt. 1953 heirateten er und Ihre Mutter. Ihre Familien kannten sich bereits aus Amsterdam. Anne
und Sie waren fast gleich alt, aber nicht befreundet. Warum?
Anne hatte zwei gute Freundinnen und eine feste Clique: Anne, Sanne und Hanne. Das machen Mädchen
doch gern so, und diese Clique wollten sie nicht erweitern. Anne ist mit vier Jahren nach Amsterdam gekommen, sprach fließend Niederländisch und war an der Montessori-Schule. Ich
bin erst mit neun aus Wien dazugekommen und war an der gewöhnlichen Schule. Wir haben uns aber mit allen Kindern oft auf dem Platz vorm Haus getroffen, die Wohnungen hatten ja keinen
Garten. Ich habe mit den Buben Sport gemacht, die Anne eigentlich nie. Sie hatte immer Kinder um sich herum, hat Geschichten erzählt, Kleider und Haare waren ihr wichtig, und sie
hat mit Jungs geflirtet. Sie schreibt das auch im Tagebuch. Mir waren solche Dinge ganz egal, und so ähnlich ist es auch heute noch.
Ihre Kindheit endete schlagartig an Ihrem 15. Geburtstag 1944. Sie wurden verhaftet und deportiert. In Auschwitz erkrankten Sie rasch an Typhus. Eigentlich das sichere
Todesurteil ...
Es war ein Wunder! Auf der Krankenstation habe ich Minnie, die Cousine und beste Freundin meiner
Mutter aus Prag, wiedergetroffen. Sie musste für den Lagerarzt Josef Mengele arbeiten und hat nicht nur mich aufgepäppelt, sondern auch meine Mutter vor der Selektion
gerettet. Ich dachte damals, sie wäre tot. Das habe ich auch meinem Vater gesagt, als ich ihn das letzte Mal im Lager traf: Sie wurde vergast! Ich habe ihm damit die Hoffnung
genommen. Dann begannen die Todesmärsche, und ich war zu schwach, um mitzugehen. Mein Vater und mein Bruder kamen dabei um, meine Mutter und ich wurden von den Russen befreit. Die
Zeit nach Auschwitz war für mich eigentlich schwerer als die Zeit im Lager.
Warum?
Im Lager musste ich tapfer sein, ich hatte den Willen und die Hoffnung zu überleben. Aber als ich
erfuhr, dass mein Vater und Bruder tot waren, habe ich alles verloren, auch den Glauben an Gott. Ich fühlte mich schuldig, weil ich überlebt hatte. Meine Mutter und ich haben uns nie
gesagt, wie unglücklich jede von uns war. Wir taten so, als ob uns das nichts ausmachte. Komisch, nicht? Ich war voller Hass. Am 1. Januar 1946 habe ich auf einen Zettel geschrieben,
dass das Leben ohne Vater, Bruder und Familie sinnlos ist. Ich wollte mich umbringen.
Hassen zerstört das eigene Leben, ein Bumerang. Wie überwanden Sie den Hass?
Ich wollte Kinder haben. Mein Vater hat mir früh gesagt, du wirst natürlich sterben, aber in deinen
Kindern lebst du weiter. Er hat mich zur Tapferkeit erzogen und als Kind ins Wasser geworfen, bevor ich schwimmen konnte. Das hat gepasst, danach habe ich mich alles getraut. Meine
Kinder wollte ich genauso erziehen, weil ich weiß, wie schwer das Leben sein kann. Ich habe ihnen aber nie erklärt, warum ich so streng bin. Selbst meinem Mann habe ich nichts erzählt.
Da war völlige Sprachlosigkeit. Ich habe ein einsames, schreckliches Leben geführt. Erst als ich in London 1986 bei einer Anne-Frank-Ausstellung über den Holocaust sprechen
sollte, ist es aus mir herausgebrochen. Es war alles in meinem Kopf. Alles. Solange man nicht davon spricht, sitzt es da. Und dann konnte ich auf einmal loslassen. Meine Kinder
sehen mich seitdem wahrscheinlich in einem ganz anderen Licht.
Haben Sie Ihren Frieden gefunden?
Mit der Zeit habe ich weniger gehasst, aber der Hass war noch da. Nachts habe ich von der Selektion
meiner Mutter geträumt. Darüber zu sprechen war meine zweite Rettung. Otto Frank hat immer gesagt: Die Leute, die du hasst, die wissen das ja nicht, nur du leidest darunter. Ich habe
jetzt Frieden in mir selbst, aber nicht mit der Welt gefunden.
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und auch in diesem, ja man kann ja sagen, "prominenten" zeitzeugen-artikel - kommen bei frau schloss auch
wieder einige typisch haftengebliebene symptome einer traumatischen erlebnisaufarbeitung des holocaust zum tragen, die ihr leben bis heute entscheidend beeinflussen und beeinflusst
haben.
da ist diese "jugendliche eifersucht" auf ihre stiefschwester anne frank, mit der sie ja gar nicht so sehr
verbandelt war zu ihren gemeinsamen lebzeiten. anne hatte ja andere dinge im kopf als sie - und den vater frank heiratete die mutter von frau schloss ja erst in den 50er jahren.
aber da war diese nagende eifersucht, dass diese andere mit ihrem mörderischen schicksal und ihrem
jugend-tagebuch dazu in den gleißenden fokus der welt-aufmerksamkeit rückte - und eva "nur" immer als die "stiefschwester von anne frank", vielleicht auch nur unter dem einsatz von ellenbogen des
stiefvaters otto frank, "auch" dann öffentlich wahrgenommen wurde.
und dann war da dieses eisige schweigen in den opferfamilien, dieses randvolle "zusitzen" voller wut und scham
und unverarbeiteter erlebnisse im lager, die einem die kehlen abschnürte...
und dann eben auch die allmähliche morgendämmerung: bei eva die durchgemachte typhus-erkrankung, die sie überstanden und überlebt hatte, und die zu der zeit, zumal in auschwitz, zumeist tödlich verlief. sie war stark - sie
hatte den tod besiegt. sie hat das lager überlebt, auch weil auschwitz ja dann fast genau vor 75 jahren am 27. januar 1945 von der sowjetischen armee endlich befreit wurde.
damals war eva 15 jahre alt, und fiel aber direkt danach in ein tiefes emotionales loch, mit viel leid und trauer
um bruder und vater, aber sicher auch in selbstmitleid und lebensnot, bis hin zu selbstmordgedanken - und die enge einschnürung in diese schicksalseinsamkeit der eigenen person, auch vor der eigenen
familie dann, vor den eigenen kindern und dem ehemann.
und erst 41 jahre nach der befreiung von auschwitz, bei einer ausstellungseröffnung zum schicksal ihrer
stiefschwester anne frank fielen diese eigenen fesseln endlich ab - und der bibel-evangelist würde jetzt wohl formulieren: "und ihre zunge löste sich" - und "wess das herz voll ist, dess geht der
mund über" und sie konnte plötzlich über all das verdrängte und abgespaltene sprechen - ja geradezu lossprudeln - und seitdem - also jetzt auch schon wieder seit über 30 jahren - reist sie durch die
welt und berichtet als noch "echte zeitzeugin der ersten generation" schulklassen und hält vorträge bei ausstellungen, kongressen und tritt als zeugin auf.
und nun wissen auch die töchter und deren kinder und kindeskinder, warum sie so sind wie sie sind, und warum
mutter und (ur-)oma so ist wie sie ist und wie sie war.
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