Als hätte es sie nie gegeben from Medienwerkstatt Franken on Vimeo.
Im Dritten Reich wurden aus den sozialen Einrichtungen der Diakonie Neuendettelsau im Landkreis Ansbach über 1200 Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen in staatliche Anstalten
deportiert. Mindestens zwei Drittel von ihnen wurden dort getötet, weil sie aus Gründen der „Rassenhygiene“ als „lebensunwert“ galten.
Mitte der 1980er Jahre hat die Diakonie Neuendettelsau zwei Historiker mit der Aufarbeitung der Ereignisse beauftragt. Das daraus resultierende Buch „Warum sie sterben mussten“ (1991) war schnell
vergriffen, das öffentliche Interesse enorm. Denn Ärzte und Pfarrer hatten die in ihrer Obhut lebenden Menschen nach anfänglichem Zögern nur allzu bereitwillig ausgeliefert.
Und mehr noch: Unsere neuen Recherchen in den bislang nie gesichteten Patientenakten zeigen, wie unliebsame Bewohner, Erwachsene wie Kinder, auch in der Phase der „dezentralen Euthanasie“ ab 1941
von den damals leitenden Pfarrern in die staatliche Heil- und Pflegeanstalt nach Ansbach verlegt und damit wissentlich dem Tod preis gegeben wurden.
Doch wer sich heute, fast 30 Jahre nach der ersten Aufarbeitung, zum Thema informieren möchte, wird z.B. auf der Homepage von „diakoneo“, wie sich die Diakonie Neuendetttelsau inzwischen nennt, kaum
fündig – dort werden zwar die Opferzahlen genannt, die aktive Beteiligung der damals leitenden Pfarrer wird jedoch verschwiegen. Stattdessen sind noch immer Häuser und Straßen nach ihnen
benannt.
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Wie tief verstrickt die Verantwortlichen wirklich waren
NS-"Euthanasie" bei der Diakonie Neuendettelsau: Laut Forschern sind viele Fragen bei der Aufarbeitung noch
offen
Die Diakonie Neuendettelsau hat 1991 mit dem Buch "Warum sie sterben mussten" ihre Verstrickung in die
"Euthanasie"-Verbrechen der Nazis aufgearbeitet. Später hat sie die Zeit bis 1955 in einem zweiten Buch beleuchtet. Doch es gibt immer noch Fragen.
Von Vanessa Hartmann epd - aus: "evangelisch.de" (14.05.2019)
Es war ein Erdbeben, das die Diakonie Neuendettelsau Anfang der 1990er Jahre auslöste. Als erste diakonische
Anstalt in Bayern hatte das Sozialwerk seine Verstrickung in die "Euthanasie"-Morde der Nazis von zwei unabhängigen Wissenschaftlern untersuchen lassen. Bundesweit interessierten sich Medien dafür.
"Das war für die Öffentlichkeit sehr erschütternd: Es kann doch nicht sein, dass eine kirchliche Einrichtung keinen Deut besser war als eine staatliche", erinnert sich Hans-Ludwig Siemen, einer der
Autoren. In mehreren Deportationen waren 1940/41 mehr als 1.200 Bewohner der Diakonissenanstalt in staatliche Heil- und Pflegeanstalten verlegt worden, mindestens zwei Drittel starben.
"Euthanasie", der "schöne Tod", diesen Begriff prägten einst die Griechen für ein leichtes Sterben. Die
Nationalsozialisten verschleierten damit die Tötung von Menschen mit geistigen und seelischen Gebrechen, die nicht in ihre Wahnvorstellungen von der "reinen Rasse" und dem "gesunden Volkskörper"
passten.
Wandel der Deutung
Die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Diakonie ist für den Wissenschaftler und Psychoanalytiker Siemen bis
heute nicht abgeschlossen: "Die Menschen wurden von der damaligen Leitung sehr bereitwillig ausgeliefert, weil man den Fortbestand der Einrichtung sichern und die Gebäude retten wollte." Das damalige
Direktorium reagierte dabei nicht nur auf Anordnung, sondern erbat auch selbst die Aufnahme vieler "Pfleglinge" in staatliche Anstalten, in dem Wissen, dass diese Verlegung für sie den Tod bedeuten
würde. Seit diesem Buchprojekt in den 1990er Jahren hat sich die Diakonie für ein würdiges Gedenken an die "Euthanasie"-Opfer eingesetzt. Ihre Namen findet man heute sorgfältig aufgelistet in den
Gedenkbüchern, die in den Kirchen der Diakonie Neuendettelsau ausliegen.
Es gab Gedenkgottesdienste, Gedenksteine und Ausstellungen. Doch gleichzeitig hat sich die
Deutung der Geschehnisse von einst unbemerkt gewandelt. Auf der Internetseite der Diakonie etwa wird der Eindruck erweckt, die damalige Leitung habe allein auf Anordnung des NS-Staats ihre
"Pfleglinge" hergegeben. Von "massiven Eingriffen von außen in die Arbeit der Diakonissenanstalt" ist dort die Rede. In einem neueren Buch über die damaligen Ereignisse kommt Autor Hans-Walter
Schmuhl gar zu dem Schluss, die Diakonissenanstalt könne für sich in Anspruch nehmen, ein "Raum der Resistenz" gewesen zu sein. Ausführlich werden Rettungsmaßnahmen einzelner Diakonissen
geschildert.
Das Schicksal der kleinen Luise
Keine Erwähnung hingegen finden die vielen Einzelverlegungen meist schwieriger Heimbewohner, die
es bei der "dezentralen Euthanasie" ab Mitte 1941 gab. Ein Blick in die Patientenakten im Zentralarchiv der Diakonie wirft die Frage auf, ob das Direktorium das "Euthanasie"-Programm nicht sogar
befürwortete. Da ist zum Beispiel die dreijährige Luise Geißbauer, die im Sommer 1943 von ihrer Mutter gebracht wird. Nur während der Sommermonate will sie Luise in Neuendettelsau unterbringen,
auf eigene Kosten - um den NS-Staat erst gar nicht auf ihre behinderte Tochter aufmerksam zu machen. Spätestens nach der Erntezeit sollte Luise wieder nach Hause dürfen.
Doch dazu sollte es nicht kommen; das Mädchen stört. Pfarrer Hilmar Ratz, Direktor der Behindertenhilfe, schreibt
der Mutter Ende August, dass eine Verlegung nach Ansbach unumgänglich sei. Die Mutter ist unsicher, will ihr Kind nicht "für dauernd" nach Ansbach geben. Doch der Pfarrer antwortet, sie könne Luise
"sicher jederzeit wieder herausnehmen". Vom Pfarrer beruhigt, stimmt die Mutter der Verlegung zu. Daraufhin wird Luise nach Ansbach in die Kinderfachabteilung verlegt: "Da das Kind dauernd unruhig
ist und seine Umgebung durch Schreien stört, ist seine Verlegung dringend geboten." Keine drei Wochen später stirbt das Kind in Ansbach - angeblich an Lungenentzündung.
Die Kinderfachabteilung in Ansbach gab es vermutlich seit 1942. Insgesamt wurden etwa 30 Kinderfachabteilungen im
Reichsgebiet eingerichtet, um gezielt Kinder mit Beeinträchtigung im Rahmen der sogenannten Kinder-Euthanasie zu beseitigen. Leiterin in Ansbach ist die Oberärztin Irene Asam-Bruckmüller. In den
1960er Jahren wird sie wegen Beihilfe zum Mord in 50 Fällen angeklagt, doch dank attestierter Prozessunfähigkeit durch befreundete Ärzte wird das Verfahren gegen die Frührentnerin eingestellt. Heute
zweifelt niemand mehr daran, dass sie für den Tod von mindestens 156 Kindern in Ansbach verantwortlich war und übereifrig mit dem Reichsinnenministerium kooperierte.
Historiker Mark Deavin untersucht seit zwei Jahren die Patientenakten aller Ansbacher "Euthanasie"-Opfer und ist
sich sicher: "Hunderte von ihnen, auch Erwachsene, wurden von Asam-Bruckmüller ermordet. Sie ist in mindestens 85 Prozent der Todesfälle in Ansbach involviert. Sie ist eine Massenmörderin." Die
meisten wurden mit dem Beruhigungsmittel Luminal vergiftet - ein qualvoller Tod: die Opfer entwickelten langsam Atemlähmung. Mark Deavin sieht Asam-Bruckmüller dabei keineswegs als überzeugte
Nationalsozialistin. "Menschen mit Beeinträchtigung hielt sie aber für lebensunwert." Sie sah es als ihre Pflicht an, sie zu töten, sagt Deavin, der in Leeds und London Geschichte und Jura studiert
hat.
Oberärztin Asam-Bruckmüller ist nicht nur in Ansbach beschäftigt, sie betreut ab 1941 regelmäßig auch in
Neuendettelsau die verbliebenen etwa 250 Psychiatriepatienten. Die ihr anvertrauten Menschen nennt sie laut Akten "wertlos", "völlig stumpf" oder "klebrig". Dass sie auch für deren Erfassung in
Berlin verantwortlich ist, zeigt ein internes Schreiben der Diakonie, eine "Handreichung". Darin heißt es, man soll dem in Neuendettelsau fest angestellten Arzt Wilhelm Graef mit einer externen
Ärztekommission drohen. Graef scheint Skrupel gehabt zu haben, die ihm anvertrauten "Pfleglinge" zu melden. Mit dem Vorgehen nötige man ihn, seine Unterschrift unter die Meldebögen zu
setzen.
Hans-Ludwig Siemen hält es für ausgeschlossen, dass die damalige Leitung nichts von Asam-Bruckmüllers Haltung
wusste. Er verweist auf ein Schreiben von 1945, das Hilmar Ratz an seinen Pfarrer-Kollegen Bernhard Harleß, ebenfalls Pfarrer in Neuendettelsau, richtete: "Wie ich neulich von Frau Dr.
Asam-Bruckmüller hörte, interessieren sich die Amerikaner sehr für die Sache. Da ist es natürlich nötig, dass unsere Angaben über das, was wir taten, übereinstimmen." 32 Erwachsene und 16 Kinder
wurden einzeln nach Ansbach verlegt, 20 von ihnen starben, fünf Fälle sind ungeklärt. Alle Akten zeigen, dass neben Ratz oder Harleß auch Asam-Bruckmüller in die Verlegungen involviert
war.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Asam-Bruckmüller in beratender Tätigkeit in Neuendettelsau tätig: Bis zum
Jahr 1957 war sie betreuende Ärztin dort - als die Kinderfachabteilung längst geschlossen und sie von den Amerikanern ihres Amtes in der Heil- und Pflegeanstalt in Ansbach enthoben worden war.
Trotzdem gibt es im Zentralarchiv der Diakonie Neuendettelsau keine Personalakte oder auch nur ein Foto von ihr. Dass sie in Neuendettelsau sogar geschätzt wurde, zeigen die Prozessakten des
Verfahrens in den 1960er Jahren: Der Direktor der Behindertenhilfe, Pfarrer Ratz, bescheinigte ihr, sie habe sorgfältig gearbeitet und sich stets "vor unsere Patienten gestellt".
Die kleine Luise Geißbauer hätte verschont werden können, ihre Mutter wollte sie wieder holen. Ratz ließ sie
dennoch verlegen. Nach ihrem Tod im September 1943 gibt sich der Pfarrer in einem Brief an die Mutter überrascht: "Wer hätte gedacht, dass das kräftige Kind so schnell dahin gerafft wird?" Zu diesem
Zeitpunkt hat er schon Todesmeldungen von Kindern aus Ansbach erhalten, die hohe Sterblichkeit ist ihm bekannt. Weitere Akten zeugen davon, dass man über die Vorgänge in Ansbach Bescheid weiß. Für
ein beliebtes Mädchen, das nicht in Neuendettelsau bleiben kann, bemüht sich Ratz um einen Platz in der Inneren Mission und rät den Eltern von der Unterbringung in staatlichen Anstalten
ab.
Diese Einzelverlegungen sind der Diakonie seit den 1990er Jahren bekannt, wurden aber nie öffentlich gemacht. Ein
Diakonie-Sprecher sagte, die Diakonie öffne ihre Archive für jeden: "Vorgaben zu machen, ist nicht unsere Strategie." So hatte Historiker Hans-Walter Schmuhl keine Kenntnis von den Einzelverlegungen,
als er 2014 sein Buch "Im Zeitalter der Weltkriege" veröffentlichte. Für weitere Forschungen sei die Diakonie offen, wolle sie aber nicht beauftragen, so der Sprecher: "Das wäre nicht glaubwürdig.
Lücken in der Forschung wird es immer geben." Es sei immer klar gewesen, "dass damals Verantwortliche tief verstrickt in die 'Euthanasiehandlungen' waren".
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diese "einzel-verlegungen" aus den konfessionellen einrichtungen in die ns-staatlichen heilanstalten des deutschen
reiches sind insgesamt sicherlich noch einmal ein großes und bisher nicht befriedigend erschlossens
umfassendes forschungsgebiet als hintergrund zu den "euthanasie"-morden insgesamt und der "beteiligung" oder dem nicht- bzw. mitwissen konfessioneller institutionen oder deren würdenträger
damals.
auch gegenüber bethel hat jüngst prof. dr. claus melter und seine studenten von der fh bielefeld ja fragen zum
schicksal ähnlicher (einzel-)"verlegungen" aus bethel in staatliche ("zwischen-")"heil"anstalten" aufgeworfen - zu denen "offiziellerseits" immer mal wieder gern ge- und verschwiegen wird - oder aber
- anstatt offen in den eigenen archiven und unterlagen forschen zu lassen - werden von den konfessionellen institutionen umfängliche "forschungsarbeiten" dazu in auftrag gegeben, die sich dann aber
oft recht langwierig ausgestalten in ihrer jeweiligen "performance" - oder in ihren "konkreten" aussagen so verschlüsselt sind, dass man einfach mit semantisch raffinierten "forschungsformulierungen"
versucht, neue "schuldfreie" zusammenhänge darzustellen bzw. zu konstruieren (! - "wess brot ich ess, dess lied ich pfeif"...). ich will hier keine namen nennen... - aber das alles lässt sich durchaus auch ergoogeln...
inwieweit die konfessionellen einrichtungen quasi unter druck gesetzt wurden, mit letztlich ja von amts wegen
finanzierten wohldifferenzierten pflegesatz-abrechnungsvolten und abrechnungs-"erpressungen" und entsprechenden lebensmittel-zuteilungen und -kürzungen zum ende hin, ist nicht genau auszumachen - und
das gestaltete sich ja auch je nach einzel"fall" und privatvermögen der familien der patienten vielleicht unterschiedlich.
fest steht, dass die nsdap in hoch-zeiten fast 8 millionen eingetragene mitglieder hatte - bei rund 80 millionen
reichs-einwohnern insgesamt und einem erwachsenen-anteil von über 50 mio. menschen. das nationalsozialistische gedankengut war also mit seinen erbgesundheitlichen ausrichtungen und konsequenzen bis
in konfessionelle kreise hinein damals allgemeiner "zeitgeist" und etabliert - man könnte auch sagen: der "zeitgeist" war damit "durchseucht" - was sich ab 1933 bis mindestens 1942 noch verstärkte.
insofern haben ja auch zumindest fast alle konessionellen anstalten bei der massenhaften "zwangssterilisation" geradezu bereitwillig mitgemacht.
in der allgemeinen wohlfahrtsfürsorge traten ab 1933 auf einer seite die nsv - die nationasozialistische
volksfürsorge - nun frech fordernd mit ihrem totalitären allumfassenden machtanspruch und ihrer ihr immanenten erblehre auf den plan, der "eugenik", mit dem gedanken der "ausmerze" alles schwachen
und kranken - und auf anderer seite die seit kaiserreich und weimarer
republik etablierten christlich motivierten institutionen von diakonie und caritas - und die sich
eben nun nach dem seit der weimarer republik geltenden subsidiaritätsprinzip in der sozialhilfe sozusagen als anbieter-konkurrenten
"gegeneinander" gegenüberstanden und auf gegegenseitigen "bettenklau" gingen (= nur ein belegtes bett bringt pflegesatz-einnahmen...).
mit seinem offenen und verstohlenen und später "wilden" "euthanasie"-programm hatte der ns-staat deutsches reich
aber auch eine möglichkeit entwickelt, sich der unterbringunskosten in der sozialhilfe zu entledigen - und diese so eingesparten mittel insgesamt mit für die nun dringend benötigte "kriegskasse" zu
erschließen.
inwieweit aber vielleicht in abgesprochenen "deals" der mit der sozialfürsorge befassten stellen und ämter und
versicherungen "gehandelt" und "abgesprochen" wurde ("gibst du mir deine - geb ich dir meine"), sei vorerst einmal dahingestellt - bis zu einem neutralen (!) und umfassenden
forschungsergebnis.
ob also einzelne patienten den konfessionellen einrichtungen tatsächlich von den staatlichen nsv-anstalten
"entrissen" wurden, quasi von der "tränenbenetzten schürze der ordensschwester" weg - oder ob kräfte in den konfessionellen anstalten sich unliebsamen einzelpatienten "entledigen" wollten - und was
die jeweiligen tatsächlichen beweggründe der "verlegungen" bzw. "deportationen" war, ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt - und es gab sicherlich auch einzelfälle sowohl in die eine richtung als
auch in die andere...
spannend ist also die frage, ob es ein institutionelles wollen dazu gegeben hat - und ob quasi automatismen und
anschluss-deportationen jeweils geplant und anberaumt wurden.
aber vieles spricht dafür, dass so "behütend" und "sorgend" die konfessionellen einrichtungen nicht immer
auftraten, wie es direkt nach dem krieg zunächst unisono beteuert wurde.
und die offenen oder heimlichen verantwortungsträger waren dann in den 60er/80er jahren, bei eventuellen
prozessen zur klärung dieser sachverhalte zumeist "verhandlungsunfähig" oder unabkömmlich oder bereits verstorben - wie das leben eben so spielt ...
Gedenken an vergessene Deportierte
FH-Studenten bringen ein dunkles Kapitel der Stadtgeschichte ans Licht. Ihre Recherchen belegen „Krankenmorde“ an
Bethel-Patienten im Nationalsozialismus. Schulen sind jetzt aufgerufen, dazu zu forschen.
Von Christine Panhorst | NW
26 Schicksale gerieten in Vergessenheit. Es sind die Schicksale von Bielefelderinnen und Bielefeldern, die in der Zeit des Nationalsozialismus deportiert, später gezielt getötet wurden oder an den Folgen menschenunwürdiger Lebensbedingungen verstarben. Die Gemeinsamkeit: Sie waren nicht jüdischen Glaubens und galten als „unheilbar krank“. Durch neue Recherchen hat eine Gruppe Studenten um FH-Professor Claus Melter und die Studentin Sevim Dik nun aufgedeckt, wer diese Opfer von „Krankenmorden“ waren. Viele waren Bethel-Patienten. Heute, auf den Tag genau 75 Jahre nach Weltkriegsende, gibt es für sie noch immer keine Gedenkkultur. Das soll sich ändern.
Seit 2017 gibt es die Forschungsgruppe an der Fachhochschule Bielefeld, die Bielefelds und Bethels Geschichte im Nationalsozialismus erforscht. Immer wieder geht es dabei um das Thema Euthanasie.
Jetzt sind Melter und seine Studenten durch intensive Recherchen im Münsteraner Archiv des Landesverbands Westfalen-Lippe (LWL) auf weitere Opfer gestoßen. „Bei unseren Forschungen zum Betheler
Kinderkrankenhaus sind wir darauf gekommen, dass auch Erwachsene in Zwischenanstalten deportiert wurden“, berichtet der Wissenschaftler von der Fachhochschule Bielefeld. 22 ehemalige Bethel-Patienten
seien in andere „Heilanstalten“ verlegt worden, galten als „ungeheilt“ und kamen daraufhin in der NS-Zeit ums Leben. „Diese drei Kriterien lassen auf sogenannte Krankenmorde schließen, die wir weiter
erforschen wollen.“
Laut Melter war es für die Patienten oft eine Deportation in Etappen. Das belegen unter anderem akribisch geführte „Ein- und Ausgangslisten“ der Heilanstalten in der NS-Zeit. „Einige Opfer wurden so
zunächst in Heilanstalten in Gütersloh und Lengerich verlegt, von dort weiter nach Münster, bevor sie in Marsberg getötet wurden“, erklärt Melter. Dort habe es neben einer sogenannten
„Kinderfachabteilung“ auch eine LWL-Klinik für erwachsene Psychiatrie-Patienten gegeben. „Hier sind Menschen vermehrt zum Sterben hingeschickt worden.“ In beiden Anstalten sei im Nationalsozialismus
entschieden worden: Wer wird am Leben gelassen, wer getötet?
25 Männer und 23 Frauen sind so laut den intensiven Recherchen der FH-Studenten 1941 aus Bethel in die Heilanstalt Lengerich „verlegt“ worden. In fünf Fällen konnte ihr Weg in den Tod nachgezeichnet
werden: Alle fünf wurden im Dezember 1944 aus Bethel als „ungeheilt“ entlassen. Alle starben in den Jahren 1944 und 1945 in Marsberg.
Im Bielefelder Stadtarchiv sei die studentische Forschungsgruppe zudem auf Akten von Personen gestoßen, deren Urnen nach Bielefeld an das städtische Polizeipräsidium geschickt wurden oder direkt an
den Sennefriedhof, berichtet Melter. „Der genaue Bezug nach Bielefeld, warum ihre Urnen hierher verschickt wurden, ist in diesen vier Fällen noch nicht ganz eindeutig.“ Waren auch sie zu einem
Zeitpunkt Bethel-Patienten oder hatten Familie in Bielefeld? Alle vier wurden in der Tötungsanstalt Hadamar in Hessen ermordet, zwei über Zwischenstation in Marsberg. In Hadamar wurden laut heutigem
Forschungsstand mehr als 14.000 Menschen mit Behinderungen und psychiatrischen Erkrankungen im Nationalsozialismus ermordet.
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Claus Melter von der Fachhochschule hat mit seinen Studenten zur Euthanasie an Bethel-Patienten geforscht. Foto: BARBARA FRANKE |
Die Aufarbeitung habe erst begonnen, sagt Melter. „Für diese Menschen gibt es keine Stolpersteine, ihre Namen stehen nicht bei denen der Deportierten auf der Steele am Bielefelder Hauptbahnhof, zu ihnen gibt es keinen Ausstellungen, keine Erinnerungsprojekte.“ Noch nicht. „Unser Anliegen ist es, diesen Menschen durch einen gemeinsamen Gedenkprozess in Bielefeld und in Bethel und durch die Namensnennung die Menschenwürde zurückzugeben.“
die "kinderfachabteilung" im genannten marsberg als stätte der dort tatsächlich auch durchgeführten kinder-euthanasie-morde wurde wohl bereits 1941 geschlossen, nach protesten aus der bevölkerung und den angehörigen. in dortmund-aplerbeck wurde diese abteilung dann weitergeführt.
man deportierte die "ausgesuchten" ns-euthanasie-mordpatienten ab 1942/43 gezielt
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